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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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scheint ihn auch zu befriedigen.
     Es klingt grotesk – er ist dabei ganz und gar er selbst. Ich weiß, ich bin im Unrecht. Es ist seine besondere Begabung, daß
     ich immer bei ihm im Unrecht bin. Meistens korrigiere ich mich, bevor er es merkt. Doch daß er es nicht merkt oder einfach
     darüber hinweggeht, entmutigt mich. Wie soll ich ihn denn jemals erreichen?
    Ich saß im Zimmer nebenan, die Tür stand offen, als er beim Schuheputzen einen Radiovortrag hörte. Oder vielleicht muß man es umgekehrt sagen: So konzentriert er zuhörte, so systematisch putzte er alle seine Schuhe, als ob er damit
     dem Vortrag applaudierte. Ich weiß nicht mehr genau, worum es ging. Es hatte etwas mit Erkenntnisproblemen in der Rechtsprechung
     zu tun, worüber ich ihn selbst schon reden gehört habe. Er war mit seiner Arbeit ungefähr fertig, als der Vortrag zu Ende
     ging. Ich sah ihm seine Befriedigung an, als er alle Schuhe, blank und auf Spanner gezogen, wieder in den Schuhschrank stellte.
     Er ging ins Badezimmer und kam mit sauberen Händen zurück, um mit mir ein Glas Rotwein zu trinken. Mir fielen seine Hände
     auf, weil er sie ständig rieb, was ich für einen Ausdruck von Zufriedenheit hielt. Aber er hatte sie wohl gerade eingecremt.
     Ich bildete mir ein, es zu riechen, als er mir sein Glas entgegenhielt, um auf mein Wohl anzustoßen. Seine Gewohnheit, dauernd
     mit mir anzustoßen, um unsere Gemeinsamkeit zu betonen. Sein Lächeln, das mir sagen will, alles sei gut. Seine gepflegten
     Hände, umhüllt von einem leichten Cremeduft. Es sind sehr weißhäutige Hände mit flachen Fingernägeln. Sie sind nicht klein,
     aber ganz anders als Pauls energische Hände mit ihren stark gewölbten Nägeln. Mir fiel ein, im Unterschied zu ihnen Leonhards
     Hände als salbungsvoll zu bezeichnen. Und dieses Wort schickte mir einen leisen Schauder über den Rücken. Ich nahm mir vor,
     es wieder zu vergessen. Auf das Vergessen kann ich mich meistens verlassen. Es ist ein Schutz wie die Farbe, mit der der Tintenfisch
     das Wasser verdunkelt, um darin zu verschwinden. Das Vergessen schützt mich vor mir selbst, auch wenn ich mir dabei abhanden
     komme. Nein, ich will das Wort nicht denken müssen, wenn er mich berührt. Ich will keine salbungsvollen Zärtlichkeiten. Auch
     keine plumpen undungeschickten. Ich will auch nicht an andere Hände denken. Und wenn ich mich selbst berühre, denke ich an nichts. Wenn ich
     mir etwas vorzustellen versuche, zerrinnt es wieder, als sage eine Stimme in meinem Kopf: Das ist es nicht. Für mich ist das
     Leben ein fremder, gleichgültiger Film mit blassen undeutlichen Bildern. Er wird von einer Frau gespielt, die mir in allem
     gleicht und die ich nicht bin. Ich sehe mich in ihr und bin es nicht, als glitte ich unsichtbar neben ihr her. Seltsam, wie
     wenige Erinnerungen ich habe. Wie wenig Erinnerungen an meine Gefühle, meine Gedanken. Als hätte ich nichts empfunden in all
     den Jahren, hätte nichts gedacht. Doch, doch, ich liebte mein Kind, ich überschüttete es mit meinen Zärtlichkeiten. Manchmal
     spürte ich, daß es Daniel zuviel wurde. Er machte sich steif und senkte den Kopf, wenn ich ihn an mich drückte und fragte,
     ob er mich so lieb habe wie ich ihn. Seine Antwort klang gehorsam. Aber ich hörte einen kleinen verschüchterten Trotz heraus.
     »Ja«, sagte er.
    Ich ließ ihn los und sagte: »Dann spiel schön«, und sah ihm nach, wie er weglief, froh, meiner heftigen, erpresserischen Umarmung
     entkommen zu sein. Jedesmal hatte ich dann Schuldgefühle. Mit mir stimmte etwas nicht. Ich, die dieses beneidenswerte Leben
     führte, war unsicher, konfus, unausgeglichen, undankbar – das machte mich mir selber fremd. Wer war ich eigentlich, daß ich
     so wenig aus meinem Leben zu machen verstand? Was war los mit mir? Ich wußte es nicht, sah nur, daß ich mein Glückssoll nicht
     erfüllte, und gab mir Mühe, es zu erreichen. Ich gab mir Mühe mit Daniel, mit dem Haushalt, mit dem gesellschaftlichen Leben.
     Und ich gab mir Mühe, wenn ich mit Leonhard schlief. Ich versuchte mich in der Rolle einer phantasievollen Bettgenossin. Leonhard ließ sich zögernd darauf ein. Im Grunde mochte er es nicht. Es machte ihn unsicher, und ich wurde ihm nur
     fremd. Einmal wies er mich zurecht, weil ich ein obszönes Wort gebraucht hatte. Er ergriff diese Gelegenheit, um mich zu beschämen
     und mich in meine alten Unsicherheiten zurückzustoßen.
    Ich war danach gehemmter als vorher, aber er schien

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