Der Liebeswunsch
Sohnes, und das wog in seinen Augen manchen Mangel auf. Er war kein besonders
einfühlsamer Mensch, aber verläßlich und großzügig, und diese Eigenschaften waren fest begründet in seinem Glauben an Institutionen.
Verläßlichkeit und Großzügigkeit gehörten für ihn zu seiner Rolle als Ehemann einer von ihm abhängigen Frau. Dieses Ehekonzept
war ihm völlig bewußt, nicht jedoch seine damit verbundene eiserne Selbstgerechtigkeit, die unter der Hand seine Großzügigkeit
in einen subtilen Druck verwandelte, den Anja ständig zu spüren bekam. Tat er denn nicht alles für sie? Bot er ihr nicht ein
schönes, sicheres Zuhause? Hatte er nicht immer dafürgesorgt, daß sie genügend Hilfe hatte, um Zeit für sich zu behalten? Nach der Geburt war es die Pflegerin, später eine Haushaltshilfe,
die an drei Tagen in der Woche kam.
Das gab Anja Gelegenheit, eine Nebenbeschäftigung anzunehmen, die ihr ein ehemaliger Studienkollege angeboten hatte, der jetzt
beim Fernsehen arbeitete. Sie mußte für die Dramaturgie Romane und Erzählungen lesen und knappe Inhaltsbeschreibungen und
Beurteilungen verfassen, aus denen die Redakteure entnehmen konnten, ob die Story für eine Verfilmung oder eine andere Verwertung
in Frage kam. Anscheinend machte sie diese Arbeit nicht schlecht, denn man beschäftigte sie nach einer kurzen Probezeit weiter.
Leonhard sah Anjas »Gutachtertätigkeit«, wie er es mit leisem ironischem Zungenschlag nannte, als eine Spielerei an, weil
noch nie eine ihrer Empfehlungen verwirklicht worden war. Er hielt sich aber mit kritischen Bemerkungen zurück. Auch ich konnte
mir nicht vorstellen, daß Anja für diese Arbeit besonders geeignet war, es sei denn, es galt bei diesem Job als ein Vorzug,
daß sie nicht dazu neigte, eindeutige Urteile zu fällen. Sie gab mir nie eines ihrer Gutachten zu lesen. Bei den meisten Büchern,
die sie zu beurteilen hatte, handelte es sich um Saisonneuheiten, die ich nicht kannte. Ich vermutete, daß ihr ehemaliger
Studienkollege, der ihr diese Bücher zur Beurteilung schickte, ein nicht bloß sachliches Interesse an der Zusammenarbeit mit
ihr hatte. Doch es gab keinerlei Anzeichen, daß es sich bei ihr ähnlich verhielt. Sie war im Gegenteil bemüht, ihrer Ehe mit
Leonhard gerecht zu werden.
Ihre Stimmungsschwankungen wurde sie allerdings nie ganz los. Es gab Tage, an denen sie sich zu nichts aufraffen konnte. Sie
wirkte dann unaufmerksam und entschlußlos,ließ Gegenstände fallen oder verletzte sich. Und in Gesellschaft neigte sie dazu, einen Dunstschleier um sich zu legen, indem
sie ein Glas zuviel trank. Leonhard, der das wohl eher beiläufig bemerkte, bat mich wiederholt, mich um Anja zu kümmern. Ich
sei für sie so etwas wie eine ältere Schwester.
Er hätte mich eigentlich gar nicht erst motivieren müssen. Ich bin ohnehin geschlagen von meinem Gefühl, für schwächere Menschen
in meiner Umgebung verantwortlich zu sein. Als Leonhard mich bat, mich um Anja zu kümmern, gab mir das vorübergehend das Gefühl,
eine Komplizenschaft mit ihm einzugehen. Denn immer noch hatte ich die Vorstellung, daß Anja an meiner Stelle mit ihm zusammenlebte
und ich am Gelingen dieser Ehe interessiert sein müsse. Das war natürlich Unsinn. Es war schließlich allein ihre Entscheidung
gewesen, ihn zu heiraten oder sich von ihm heiraten zu lassen, was den Sachverhalt etwas genauer beschreibt.
Damals, ein halbes Jahr nach der Geburt von Daniel, mietete Leonhard ein schönes, geräumiges Reihenhaus aus den dreißiger
Jahren in Bayenthal, dem Vorort, der an das Marienburger Villenviertel grenzte, in dem wir wohnten. Paul äußerte sich mir
gegenüber ein wenig befremdet über diese unverhoffte Nachbarschaft, aber seine Befürchtung, daß wir nun dauernd Besuch von
den beiden bekämen, bestätigte sich nicht. Ich wurde zwar Anjas Beraterin in vielen praktischen Fragen, aber wenn sie mit
mir reden wollte, rief sie lieber an, als selbst zu kommen. Und Leonhard war ohnehin ein Mensch, der jedes Treffen lange vorher
in seinen Terminkalender einzutragen pflegte. Bei Paul verhielt es sich aus chronischem Zeitmangel nicht anders. Er hatte
die Arbeitsstelle gewechselt, weil er glaubte, an der anderen Klinikbessere Aufstiegschancen zu haben. Aber vorerst hatte er sich nur mehr Arbeit eingehandelt. So blieb die Planung unserer gemeinsamen
Unternehmungen an mir hängen. Als ich ein wenig darüber stöhnte, bemerkte Paul, meine Power sei
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