Der Liebeswunsch
habe. Er heißt ›Die Fahrt zum Leuchtturm‹.«
»Es ist Marlenes neues Kultbuch«, erklärte Paul.
»Ja, es ist wirklich ein großartiges Buch«, sagte sie. »Obwohl eigentlich nichts Besonderes geschieht. Kennst du es, Anja?«
Ich sagte nein. Und während sie gleichmäßig mit den Fingerspitzen die Muskelknoten in meinem verspannten Nacken bearbeitete,
begann sie zu erzählen:
»Das Buch handelt von einer englischen Dame, die jedes Jahr mit ihrer großen Familie und Freunden einige Wochen in einem Sommerhaus
am Meer verbringt. Es ist eine heitere Idylle. Man lebt im Garten, badet, macht kleine Einkäufe im Dorf, eine junge Malerin
schlägt ihre Staffelei auf. Und Jahr für Jahr redet man davon, daß man eine Bootsfahrt zu einer kleinen Leuchtturminsel vor
der Küste machen will. Aber immer kommt etwas dazwischen. Der Bootsausflug bleibt ein Wunschtraum. Im zweiten Teil des Buches
ist dann Mrs. Ramsay, die der Mittelpunkt der Feriengesellschaft war, seit Jahren tot. Ihr alt gewordener Mann fährt noch
einmal mit seinen nun fast erwachsenen Kindern in das verwaiste Haus, um endlich die Fahrt zum Leuchtturm zu machen. Er versucht
nachzuholen, was man versäumt hat. Aber es ist nicht mehr dasselbe. Man kann nichts nachholen.«
»Scheint ja eine trübe Geschichte zu sein«, sagte Leonhard.
»Es ist ein großartiges Buch«, widersprach Marlene. »Ich war ganz erschlagen davon.«
»Und wozu soll das gut sein? Alle diese Romane von unglücklichen Frauen?«
Ich weiß nicht, ob ich vorhatte, zwischen Leonhard und Marlene zu vermitteln. Jedenfalls sagte ich im Tonfall einer Frage:
»Vielleicht wollte die Autorin sagen, man solle nicht solchen Träumen nachhängen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Marlene. »Die Frau, Mrs. Ramsay, ist gar nicht unglücklich. Nur ein bißchen abwesend manchmal.
Von der Fahrt zum Leuchtturm träumen die anderen. Vor allem die Kinder und ihr Mann. Sie ist eigentlich wunschlos. Man weiß
nicht recht, ist sie erfüllt vom Leben oder auf eine stille und unheimliche Weise gleichgültig – hinter der Anteilnahme, die
sie für alle Menschen ihrer Umgebung hat.«
»Vielleicht ist sie beides«, sagte ich.
»Das widerspricht der Logik«, protestierte Leonhard.
»Das tut das Leben mit Vorliebe«, warf Paul ein. »Das mußt du als Richter doch wissen.«
»Nein, nein«, widersprach Leonhard, »in der Tiefe ist alles logisch. Was nicht so erscheint, hat man noch nicht verstanden.«
»Zum Beispiel die Frauen«, sagte Paul.
Das war ein Versuch, die Diskussion abzubrechen, bevor sie philosophisch wurde. Alle empfanden es als einen Ausrutscher, besonders
Marlene, die gereizt reagierte: »O Gott, fang nicht wieder damit an!«
»Bitte um Vergebung«, sagte er und hob beide Hände. Dann fügte er hinzu: »Nun, wie sieht's aus? Fliegen wir alle nach Kalifornien?«
»Lieber erst mal ein Wochenende nach Paris«, sagte Leonhard.
»Und was willst du da?« fragte Marlene.
»Gut essen. Und ins Museum gehen. Zum Beispiel in das Museum Gare d’Orsay, wo jetzt die Impressionisten hängen.«
»Amsterdam wäre auch nicht schlecht«, sagte Paul.
»Das wird ja immer komplizierter«, sagte Marlene. »Jetzt lege ich trotzdem noch was drauf. Ich möchte schon lange einmal nach
Florida. Und zwar nicht ins Rentnerparadies von Miami, sondern in den nördlichen Teil. Erst verbringen wir eine Zeit am Atlantik,
und dann wechseln wir rüber zum Golf von Mexiko. Und bei der Rückreise kann man noch ein paar Tage in New York dranhängen.
Das wäre meine Fahrt zum Leuchtturm.«
Sie beendete ihre Massage gleichzeitig mit ihrem letzten Satz, als wolle sie mich freigeben, bevor sie mich fragte: »Und du,
Anja, was meinst du?«
»Mich dürft ihr heute nicht fragen. Mir fällt nichts ein«, sagte ich.
»Aber in zwei Stunden hast du Geburtstag.«
»Dazu fällt mir auch nichts ein.«
Sie blieben noch bis Mitternacht und gaben mir zum Abschied ihr Geschenk: eine Grafik von Ivor Abrahams, die zu einer Serie
von Parkbildern gehört, aus der ich schon ein Bild hatte. Es sind Montagen von Elementen aus verschiedenen Parklandschaften,
die zu neuartigen, befremdlich wirkenden Szenerien zusammengefügt sind. Die Farben sind unnatürlich intensiv und die Größenverhältnisse
bizarr. Wenn ich die Bilder anschaue, denke ich immer, so könnte man träumen. Aber das ist mir noch nie gelungen. Noch nie
habe ich im Traum eine schwefelgelbe Rasenfläche gesehen, umrahmt von dichtbelaubten
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