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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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Baumkronen, die ohne Stamm auf der Erde stehen. Wahrscheinlich würde es mich erschrecken.
     Marlene hat das Bild nach längerem Suchen in einer kleinen Galerie für mich aufgespürt. Man sagte ihr dort, der Künstler sei
     seit Jahren nicht nur vom Markt, sondern auch als Person verschwunden. Vielleicht ist das Bild auch deshalb für mich so geheimnisvoll.
     Es steckt etwas Bedrohliches darin. Etwas Fremdes, was mich anweht, als ob es auf mich gemünzt sei.
    Ich wußte, daß Leonhard das Bild nicht mochte. Doch natürlich sagte er nichts dazu und würde sich auch mir gegenüber mit seinem
     Urteil zurückhalten. Trotzdem hatte ich Angst davor, bald wieder mit ihm allein zu sein. Ich hatte nichts Bestimmtes zu befürchten,
     außer dieser Fremdheit, die zwischen uns war. Das war aber nur eine meiner Anwandlungen, die kamen und gingen und keinen Schaden
     anrichteten, wenn ich sie mir nicht anmerken ließ. Das jedenfalls hatte ich gelernt. Und mehr brauchte es eigentlich nicht,
     damit unser alltägliches Leben funktionierte.
    Als Marlene und Paul sich verabschiedet hatten, von mir wie üblich mit Küssen, wollte mir Leonhard noch seine Geschenke präsentieren.
     Ich bat ihn aber, bis zum Frühstück damit zu warten, da ich ziemlich erschöpft sei und mich jetzt nicht richtig darauf einstellen
     könne. Wahrscheinlich enttäuschte ihn das. Er zeigte es nicht und machte auch keine Einwände. Er tat mir leid. Aber ich dachte,
     daß ich besser wisse als er, was zu tun war. Ich mußte diese Dinge für uns beide entscheiden. Mußte ihm auch sagen, daß es
     besser sei, wenn wir getrennt schliefen, denn vielleicht brütete ich einen Infekt aus. Und er durfte nicht krank werden. In
     der kommenden Woche hatte er den Vorsitz bei einem Schwurgerichtsprozeß. Er hatte mir etwas darüber gesagt, aber ich hatte es mir offenbar nicht gemerkt. Ich ließ das Bild unten und
     ging in mein Zimmer, erleichtert, allein zu sein. Langsam, mit einem Minimum an Bewegung und Gefühl für mich selbst, zog ich
     mich aus.
     
    In den letzten Tagen vor meinem Geburtstag hatte sich ein seltsamer Gedanke in meinem Kopf eingenistet. Ich empfand ihn nicht
     als meinen eigenen Gedanken. Er paßte nicht zu mir und meinem Leben, und ich ahnte, daß ich ihn loswerden mußte. Doch vor
     allem wollte ich ihm zuhören. Es war ein sanftes, beruhigendes Flüstern, das sich wiederholte. Es sagte: Das meiste ist geschafft.
     Nun wird alles leichter werden.
    Was wird leichter? fragte ich.
    Das Leben, dein Leben, sagte der fremde Gedanke.
    Und ich antwortete: Es ist doch leicht.
    Das denkst du.
    Ja, ich denke es, sagte ich.
    Und dann, als sei ich wirklich in einem Gespräch mit einer anderen Person und es wäre nicht ich selbst, die ich fragte: Ist
     es denn nicht wahr?
     
    In der Nacht wurde sie wach. Im Zimmer nebenan weinte Daniel. Sie erkannte die Stimme, die sich aus einem verfliegenden Traum
     löste, in dem sie das Sirren eines Insektes attackiert hatte, das im Dunkeln um ihren Kopf herumflog, ohne daß sie sich regen
     konnte und wußte, wo sie war. Sie setzte sich auf, um zu sich zu kommen, und schob die Beine aus dem Bett. Noch schlaftrunken
     stand sie auf und ging hinüber, öffnete leise die Tür. Undeutlich konnte sie Danielin seinem Bett erkennen, denn er wollte nie, daß sie die Vorhänge ganz zuzog, wenn sie ihm gute Nacht sagte. Er hatte aufgehört
     zu weinen. Wahrscheinlich war es nur ein kurzes Aufheulen gewesen, das sie sofort geweckt hatte.
    »Mama?« fragte er, als sie an sein Bett trat.
    »Ja, ich bin da«, sagte sie und streichelte über seinen verschwitzten Haarschopf. »Was hast du denn? Warum hast du geweint?«
    »Hab was Schlimmes geträumt.«
    Undeutlich sah sie, daß er seine Augen wieder geschlossen hatte, als schaue er noch in seinen Traum hinüber.
    »Ach, ich habe auch geträumt«, sagte sie. »Weißt du noch, was du geträumt hast?«
    »Ein großer schwarzer Hund hat eine kleine Katze gebissen.«
    »Ja, das ist wirklich kein schöner Traum. Aber schau, es ist gar kein Hund da. Auch keine Katze.«
    Vielleicht sollte ich ihm ein Tier schenken, dachte sie. Er fühlte sich allein. Wir lassen ihn zuviel allein.
    »Möchtest du zu mir ins Bett kommen, mein Schatz?«
    »Ja.«
    »Dann komm.«
    Sie hob ihn aus dem Bett, und er schlang seine Arme um ihren Hals, während sie ihn über den Flur in ihr Zimmer trug. Sie fragte
     sich, ob Leonhard das billigen würde. Er mochte es nicht, daß sie Daniel verwöhnte. Andererseits liebte er

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