Der Liebeswunsch
Zeichen war.
Leonhard hatte einen Zettel hinterlassen, daß er ins Gericht fahre und wahrscheinlich mittags nach Hause komme. Die Nachricht
lag bei den Geschenken auf dem Sideboard neben dem Frühstückstisch, was wohl ein stummer Wink war, die Geschenke bitte zu
würdigen, die er für sie gekauft hatte.
Das Plaid war aus Alpakawolle, das Edelste, was es gab, für den Sommer aber zu warm. Der Seidenschal war auch von guter Qualität,
aber ziemlich konventionell. Den Bildband über Florenz mit der Widmung »In Erinnerung an unsere Hochzeitsreise« würde sie
sich wahrscheinlich nur einmal ansehen und danach im Regal vergessen. Sie war froh, daß Leonhard nicht sah, wie schnell sie
sich von seinen Geschenken abwandte. Sie hatte auch ein schlechtes Gewissen. Aber irgend etwas sperrte sich in ihr, sich über
diesen Gabentisch zu freuen. Am ehesten mochte sie noch das Plaid.
»Möchtest du ein Glas warme Milch mit Honig trinken?« fragte sie Daniel, der auf nackten Füßen neben ihr stand. Er schüttelte
den Kopf.
»Aber vielleicht einen Becher Kakao?«
»Ja«, sagte er.
Sie überlegte, ob sie ihn erst anziehen solle, aber sie war froh, daß er eingewilligt hatte, einen Becher Kakao zu trinken.
»Gut, dann mache ich uns beiden einen schönen Kakao. Und dann gibt es Frühstück. Kommst du mit mir in die Küche?«
Er nickte, folgte ihr stumm. Sie setzte einen Topf mit Milch auf die Herdplatte und schüttete nach Gutdünken Kakaopulver in
zwei Becher. Er sah ihr zu, und sie erklärte ihm, was sie tat, als blätterten sie gemeinsam in einem Bilderbuch. Er wollte
immer alles erklärt bekommen, was er sah. Manchmal wiederholte er es später bei einer unerwarteten Gelegenheit.
Das Telefon klingelte. Sie überlegte, ob sie hingehen solle, ging dann schnell beim zweiten Klingeln, weil sie vermutete,
es sei Leonhard, der etwas von ihr wollte. Es war Frank, der sie schon mit dem ersten Satz nach dem Verbleib der beiden Gutachten
fragte, die sie ihm fest für heute versprochen hatte. Heute nachmittag war die Besprechung, für die er sie brauchte. Sie sagte,
sie wolle versuchen, die Gutachten am Vormittag zu schreiben. Sie würde sie ihm am frühen Nachmittag bringen. Sie wollte auflegen.
Aber er war sehr ungehalten und erinnerte sie daran, daß sie die Bücher schließlich schon vor drei Wochen von ihm bekommen
habe. »Jaja, entschuldige, ich mach's ja noch«, antwortetesie, um die ärgerliche Stimme zum Schweigen zu bringen, die noch immer nicht beruhigt war und weiter auf sie einredete, trotz
oder gerade wegen ihrer Ungeduld, die sich wohl anhörte, als verweigere sie ein angemessenes Eingeständnis ihrer Versäumnisse.
Sie wollte aber nicht noch einmal von vorne anfangen. Sie hatte keine Zeit. Sie mußte jetzt einfach abbrechen. Statt dessen
holte die Stimme zu grundsätzlichen Wiederholungen aus. »Ich glaube, du kapierst einfach nicht. Du scheinst nicht zu wissen,
was Termine sind.«
Nebenan in der Küche hörte sie ein Scheppern und Daniels hohes kreischendes Schreien und wußte, was passiert war, wußte es
in der brennenden Helligkeit ihrer panikartigen Intuition, während sie in die Küche stürzte, wo Daniel schreiend mit nackten
Füßen in einer Milchlache stand. Neben ihm auf den braunroten Fliesen lag der leere Topf, den er anscheinend mit der aufkochenden
Milch von der Herdplatte gerissen hatte. Und obwohl sie alles auf den ersten Blick erkannte, hörte sie sich rufen: »Was hast
du gemacht?! Was hast du denn gemacht?!«
Daniel, der am ganzen Leib zitterte, schrie mit schnatternder Stimme, so daß sie ihn zuerst nicht anzufassen wagte und sich
zu ihm niederhockte, um in gleicher Höhe mit seinem schreienden Gesicht zu sein. Aber er schien sie, geschüttelt von Schmerzen,
gar nicht wahrzunehmen. Behutsam, damit die verletzte Haut nicht an dem Stoff haften blieb, versuchte sie, ihm das Oberteil
seines Schlafanzuges über den Kopf zu ziehen, und enthüllte Stück für Stück große feuerrote Wundmale wie gekocht aussehender
Haut. Er hatte sich die Brust und die rechte Schulter, einen großen Teil des Halses und den Spann beider Füße verbrüht. Wie
sie das einschätzen mußte, wußte sie nicht. KochendeMilch war jedenfalls schlimmer als kochendes Wasser. Bald würden überall dicke, aufplatzende Blasen entstehen, und die Haut
seines kleinen zarten Körpers, den sie in heimlicher Angst sich immer als etwas Unverletzbares vorgestellt hatte, würde
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