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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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das Kind. Und es
     kam ihr so vor, als stehle sie ihm diese Liebe mit unerlaubten Mitteln.
    Daniel schmiegte sich an sie und schlief gleich wieder ein. Sie konnte so schnell nicht wieder einschlafen, weil sie unbequem
     lag und sein Kopf ihren ausgestreckten Arm abdrückte. Doch sie wollte ihn nicht wieder wecken. Es war seltsam, daß Leonhard, dieser große, schwere, etwas beleibte Mann,
     der Vater dieses zarten, sensiblen Jungen war. Für ihr Gefühl gehörte Daniel vor allem zu ihr. Sie beide waren das Paar. Und
     Leonhard gewährte ihnen nur Unterschlupf in seinem ganz anderen Leben, das sie als eine weiträumige, gut ausgestattete Höhle
     empfand, in der sie geborgen und gefangen waren. Vielleicht war das nichts Besonderes. Vielleicht ging es vielen Frauen so.
     Sie konnte das nur vermuten, denn sie wußte nicht, wie sich andere Menschen fühlten. Sie verstand nur die Rollen, die sie
     spielten, und die Rollen, in denen sie selbst den anderen gegenübertrat. Es war meistens gar nicht besonders schwer. So als
     sei man bis zu einem gewissen Grade sowieso längst der, den man den anderen vorspielte. Ja, davon war sie ausgegangen, als
     sie heiratete. Genau wußte sie es nicht mehr.
    Vorsichtig zog sie ihren eingeschlafenen Arm unter Daniels Kopf hervor. Er seufzte einmal, wurde aber nicht wach. Manchmal
     erschien er ihr als ein völlig in sich abgeschlossenes Wesen, und sie wußte dann nicht, ob sie ihn überhaupt liebte. Aber
     was hieß das auch schon – ich liebe dich, ich liebe dich? Das waren Worte. Worte, die in eine andere Richtung zeigten, weit
     von ihr fort. Worte, die ein Leben vortäuschten, in dem alles richtig war. Einfach das Unbenennbare benannten.
    Was steht mir heute bevor? dachte sie, um sich zur Ordnung zu rufen. Sie mußte endlich ein seit drei Tagen fälliges Gutachten
     für den Sender schreiben. Und sie mußte Leonhards Geschenke und Glückwünsche entgegennehmen. Sie hatte sich ein leichtes Plaid
     gewünscht, weil sie sich nachmittags manchmal hinlegte, wenn sie in der Nacht schlechtgeschlafen hatte. Heute konnte sie das wahrscheinlich nicht. Sie mußte endlich das Gutachten schreiben und es spätestens am
     frühen Nachmittag in den Sender bringen. Sie hatte das schon einmal verschoben, weil sie wie vernagelt gewesen war und keine
     Linie gefunden hatte, ohne daß es dafür einen sachlichen Grund gab, der sie entschuldigt hätte. Vor allem mußte sie jetzt
     schlafen, sonst würde sie wieder nichts zustande bringen.
    Sie schloß die Augen, sah sich an dem runden Tisch sitzen, auf dem Reihen abgelegter Karten sich ausbreiteten, in der Mitte
     der Stapel der verdeckten Karten, von dem sie eine neue nahm, die sie nicht gebrauchen konnte und wieder weglegte. Welche
     es war, wußte sie nicht mehr. Alles entfernte und verdunkelte sich, und sie sackte weg in einen undeutlichen Traum, aus dem
     sie noch einmal auftauchte, um ihren Kopf noch tiefer in das Kissen zu vergraben. Ins warme Dunkel der Verborgenheit auch
     vor sich selbst.
     
    Als sie am Morgen wach wurde, mit verklebten, mühsam geöffneten Augen, lag Daniel nicht mehr neben ihr. Neuerdings hatte er
     die Angewohnheit entwickelt, ihr wegzulaufen und sich zu verstecken. Wo mochte er jetzt sein? Unten bei Leonhard. Oder in
     seinem Zimmer?
    Taumelig stand sie auf und öffnete die Tür. Unten sprach Leonhard mit Frau Schütte, ihrer neuen Haushilfe. Leonhard schien
     ihr eine Anweisung zu geben und das Haus zu verlassen. Sie hörte, wie die Haustür ins Schloß fiel, und fühlte sich erleichtert.
     Sicher war er verärgert, daß sie nicht zum Frühstück gekommen war. Allerdings hatte er ihr auch nicht gesagt, daß er heute
     ins Gericht fuhr. Jetzt hörte sie,daß Frau Schütte mit Daniel sprach, der sich dagegen sträubte, von ihr angezogen zu werden. Bevor die beiden hochkamen, wollte
     sie noch rasch ins Badezimmer. Als sie herunterkam, lief Daniel mit rutschender Schlafanzughose im Frühstückszimmer herum.
     Er hatte anscheinend darauf bestanden, von ihr angezogen zu werden, und Frau Schütte hatte ihn in einem ihrer Anfälle von
     Rigorosität stehenlassen und war nach oben gegangen, um erst einmal die Betten zu machen und die Schlafzimmer aufzuräumen.
     Daniel, der nackte Füße hatte, würde morgen wieder einmal erkältet sein. Sie brütete anscheinend auch eine Erkältung aus.
     Die Kopfschmerzen von gestern abend hatten sich verstärkt, und sie hatte Schluckbeschwerden, was bei ihr ein zuverlässiges
     schlechtes

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