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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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erfreut, Anja bei uns anzutreffen, gab mir einen schnellen Begrüßungskuß und küßte Anja auf
     beide Wangen. Dann warf er sich in einen Sessel und ließ die übliche Tirade über den Ärger und den Streß im Operationssaal
     vom Stapel. Zwischendurch hob er den Deckel der Kanne, um nachzuschauen, ob noch Kaffee drin war, und ich nahm die Kanne und
     sagte: »Ich mache noch welchen.«
    »Lieber Tee«, sagte er.
    »Eine Tasse Tee trinke ich auch noch«, sagte Anja.
    »Ich mache euch noch eine ganze Kanne«, sagte ich betont munter, als ich in die Küche ging. Es hatte unecht geklungen: wie
     eine Phrase gespielter Großzügigkeit, mit der ich schnell etwas übertönt hatte, was mich irritierte. Anjas Wunsch, noch Tee
     zu trinken, hatte mir einen feinen Stich versetzt. Ich schloß daraus, daß sie noch bleiben wollte, wenn ich zu meinem Nachtdienst
     aufbrechen mußte. Aber warum sollten sich Anja und Paul nicht noch eine Weile unterhalten, wenn ich in die Klinik fuhr? Wir
     waren schließlich miteinander befreundet. Ich konnte gut verstehen, daß Paul nach einem anstrengenden Arbeitstag etwas Ablenkung
     brauchte. Und daß Anja heute wenig Lust hatte, mit Leonhard und ihrer Mutter zusammenzusein, hatte ich gerade von ihr erfahren.
    Also setzte ich mich mit dem frischen Tee und dem japanischen Geschirr, das ich auf dem schwarzen Lacktablett hereintrug,
     wieder zu ihnen und plauderte eine Weile munter weiter, bis ich merkte, daß sich Anja nur noch floskelhaft an der Unterhaltung
     beteiligte und auch Paul einen zerstreuten Eindruck machte. Ich sah ihn verstohlen von der Seite an und bemerkte, wohin er
     schaute: Sein Blick war auf Anjas Hände gerichtet, die nervös mit dem dünnen Stoff ihres weiten hellen Rocks spielten und
     ihn ständig in andere Faltenmuster legten. Zwischendurch korrigierte sie sich und strich den Stoff auf ihren Schenkeln glatt,
     zupfte aber gleich wieder hier und da und kräuselte ihn, um plötzlich, als wollte sie das Spiel beenden, den Stoff zwischen
     ihren Schenkeln zu einer dichten, strähnigen Masse zusammenzuschieben, die ihren Schoß für meinen aufgestörten Blick in das
     Bild einer strömenden Quelle verwandelte. Sie trank einen Schluck Tee und zerstörte danach das Muster mit einer kurzen fahrigen
     Bewegung, um gleich danach wieder mit dem unruhigen Zupfen und Zerren zu beginnen.
    Nach meinem Eindruck war ihr allenfalls schattenhaft bewußt, was ihre Hände da trieben und womit sie Pauls glasig gewordenen
     Blick auf sich zog. Doch sie spürte seinen Blick, und er sah ihre Unruhe. Und beide versuchten sie, das vor mir zu verbergen,
     indem sie sich weiter notdürftig an der gemeinsamen Unterhaltung beteiligten. Ich glaube nicht, daß sie wirklich annehmen
     konnten, ich hätte die Veränderung, die plötzlich mit ihnen vorgegangen war, nicht bemerkt und ließe mich durch unser mühsam
     durch die letzten Minuten stolperndes Geplauder täuschen. Vielmehr kam es mir so vor, als ob wir in diesen Augenblicken schon
     alles über uns wußten und nur aus Hilflosigkeit oder Angst vor unabsehbaren Folgen gemeinsam den Schein eines harmlosen, freundschaftlichen Zusammenseins aufrechterhielten. Es war so unerträglich
     in seiner billigen Durchschaubarkeit, daß ich mich nach dem Moment zu sehnen begann, in dem ich die beiden allein lassen konnte,
     obwohl ich nicht daran denken mochte, was dann hinter meinem Rücken geschehen würde. Ich hätte natürlich früher als gewohnt
     aufbrechen können, aber gelähmt von meinem inneren Widerspruch hielt ich bis zur letzten Minute durch und zwang auch die beiden,
     mit ihrer Darbietung weiterzumachen, bis ich abrupt auf meine Uhr blickte und sagte: »So, ich muß leider gehen.« Im Moment,
     da ich es sagte, erwartete ich, Anja würde sagen: »Ich gehe auch.« Sie saß aber da mit gesenktem Kopf, ohne sich zu rühren,
     und statt dessen hörte ich Paul sagen: »Bleibst du noch ein bißchen, Anja? Wir können uns auch in den Garten setzen.«
    Prompt wie ein Echo sagte ich zu Anja: »Ja, bleib doch noch.«
    Ich stand seitlich von ihr und hatte mich, im Begriff zu gehen, schon zwei Schritte vom Tisch entfernt, als sie sich mir zuwandte
     und mich von unten herauf mit einem unterwürfigen und hilflosen Blick ansah, der nichts mehr verschleierte, sondern mich,
     so schien mir, für das Unvermeidliche, das nun geschehen würde, vorweg um Verzeihung bat.
    »Dann bis morgen«, sagte ich und verließ den Raum, hinter mir ein starres

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