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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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sich damit wie immer als ein Mensch zu erkennen gab,
     der kein Interesse daran hatte, in einer komplizierten Welt zu leben. Er wollte nur so schnell wie möglich nach Hause zu seiner
     kleinen Familienfeier, zu der er von Frau und Tochter erwartet wurde.
    Als er ging, nahm er etwas weg von meinen Augen, eine Art Blende, die meinen Blick, solange wir miteinander sprachen, auf
     die von ihm berichteten Tatsachen eingestellt hatte. Kaum daß er gegangen war, erloschen diese Details. Ich blickte auf ein
     vor mir liegendes Aufnahmeprotokoll mit den anamnestischen Angaben und den üblichen Daten wie Blutdruck, Herzfrequenz, Körpertemperatur,
     doch während meine Augen darüberglitten und ich mir einbildete zu lesen, sah ich wie ein Schattenspiel im Hintergrund, aber
     dann deutlicher Anjas Hände, die mit dem Stoff ihres Rokkes spielten und ihn in heimlicher Koketterie auf ihren Schenkeln zu wechselnden Faltenmustern drapierten. Plötzlich, gebannt
     von dem Gefühl, alles nehme nun seinen vorbestimmten Verlauf, sah ich Pauls Hände, die sich in das Spiel einmischten und gegen
     den vorgetäuschten Widerstand von Anjas Händen den Rock von ihren Schenkeln schoben. Und dann, ich wußte es im voraus, denn
     so hatte er es bei mir gemacht, in London und in manchen Augenblicken unserer Ehe, barg er sein Gesicht in dieser sich öffnenden
     weichen Zange, und wie in Trance begann sie, seinen Kopf zu streicheln und sanft an sich zu drücken, während ich, als sei
     der Raum durchsichtig geworden, von meinem fernen Platz aus ihnen bei ihrem stummen Liebeshandwerk zusah. Gegen meinen Willen
     mußte ich mir vorstellen, daß Anja die Kontrolle über Paul gewonnen hatte und mit ihm machen konnte, was sie wollte, und dieser
     Gedanke durchfuhr mich in schmählicher Eifersucht wie ein kaum unterdrückbares Zittern.
    Im ersten Augenblick wollte ich Paul anrufen, um seine Stimme zu hören und, auch wenn er log, aus ihrem Klang und der Art,
     wie er mit mir sprach, zu erschließen, was geschehen war. Aber die Angst, mich in meiner Eifersucht bloßzustellen, hinderte
     mich daran. Vielleicht war ja alles harmlos. Sie hatten Tee getrunken, geplaudert und sich, wie es unter vertrauten Freunden
     üblich ist, mit einem Kuß verabschiedet, als Anja gegangen war.
    Aber war sie gegangen? Das konnte ich vielleicht herausfinden, wenn ich unter irgendeinem Vorwand Leonhard anrief. Das war
     allerdings ungewöhnlich und kaum zu begründen, und es würde ihn mißtrauisch machen. Er wußte, daß ich mit Anja verabredet
     war. Und wenn sie dann später alserwartet nach Hause kam und ihm erzählte, ich habe sie zum Abendessen eingeladen, würde er wissen, daß sie log. Nachträglich
     mußte dann mein seltsamer Anruf für ihn zu einem weiteren Indiz werden, daß da grundsätzlich etwas nicht stimmte.
    Vielleicht aber war Anja, bald nachdem ich zu meinem Nachtdienst gefahren war, ebenfalls aufgebrochen und inzwischen wieder
     zu Hause. Dann würde sie sich wundern, daß ich Leonhard aus dem Krankenhaus anrief, und ihn fragen, was ich gewollt hatte.
     Oder aber sie selbst war am Apparat. Was konnte ich dann sagen, um meinen Anruf plausibel zu machen?
    Nein, es war unmöglich. Ich mußte mich zurückhalten, um nicht alles ins Rutschen zu bringen. Denn dabei konnte ich nur verlieren.
     Solange alles ungewiß war, durften weder Paul noch Anja, noch Leonhard, schon gar nicht er, etwas von meinem Verdacht wissen.
     Mein bester Schutz war jetzt meine Arbeit.
     
    Ich hatte heute nacht die fünf Stationen der Inneren Abteilung mit jeweils 25 Betten zu betreuen und machte meine Visite teils
     vor, teils nach dem Abendessen, zusammen mit den jeweiligen Stationsschwestern oder ihren Stellvertreterinnen. Besondere Vorkommnisse
     gab es nicht. Aber der frisch eingelieferte Fixer mit seiner Hepatitis war in einer miserablen Verfassung. Sein mageres Gesicht
     war quittegelb, und er schaute mich mit trüben, gelblich verfärbten Augen an. Als ich mich über ihn beugte, roch ich den typischen
     süßlichen Geruch des Leberversagens. Anscheinend war er schon lange krank und war nur ins Krankenhaus gekommen, weil man ihn
     halbtot von der Straße aufgelesen hatte. Vermutlich weil ihm sein Stoff fehlte, war er so unruhig, daß er sich die Infusion schon einmal herausgerissen hatte. Ich prüfte
     ihren Sitz und die Medikation, eine Glucoselösung mit Vitaminen sowie ein potentes Antibiotikum. Der junge Mann war zwanzig
     Jahre alt, aber wahrscheinlich bereits ein

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