Der Liebeswunsch
Todeskandidat. Ebenso die 68jährige Frau im Nachbarzimmer, die in einer fast gegenständlichen
Reglosigkeit in ihrem Bett lag und nur müde den Kopf drehte, als ich an ihr Bett trat. Sie hatte einen schweren Herzklappenfehler,
der laut Anamnese auf rheumatischem Fieber in der Jugend beruhte, eine Krankengeschichte, wie sie inzwischen selten geworden
ist. Sie bekam seit langer Zeit Digitalis. Aber ihr ausgeleiertes Herz gab kaum Leistung her.
Die Frau war eine Verkörperung von Schwäche und Hoffnungslosigkeit. Ihr Gesicht war papierweiß, die dünnen welken Lippen blutleer.
In ihrer Lunge brodelte es im Rhythmus ihrer matten Atemzüge. Ich schaute mir die Ödeme an ihren Beinen an und tastete den
dünnen Puls. Auf meine Fragen antwortete sie mit schwacher, tonloser Stimme. Ich hatte den Eindruck, die Frau hatte sich aufgegeben.
Das war eigentlich schon ein Fall für eine Extrawache. Ich sprach mit der Schwester darüber, die mir versprach, in kurzen
Abständen nach der Patientin zu schauen. Außerdem ordnete ich an, der Frau eine Sauerstoffmaske zu geben, und erhöhte die
Dosierung des Diuretikums, weil sich in ihrer Lunge wieder Wasser ansammelte.
In anderen Krankenzimmern saßen die Patienten schon beim Abendessen, das wie üblich aus Graubrot, Diätmargarine, einem blassen
Aufschnitt und einer oder zwei Käsescheiben und einer kleinen Schüssel mit gemischtem Salat bestand. Das übliche Getränk war
der rote Hagebuttentee.Einige Patienten aßen am Tisch, andere im Bett. Ich sprach mit ihnen, schaute in die Krankenakten, und wenn nichts Besonderes
vorlag, wünschte ich einen schönen Abend und eine gute Nacht und ging weiter. Hier und da horchte ich ein Herz und eine Lunge
ab oder kontrollierte eine Infusion. Dann kam ich ins Zimmer der »Höllenfürstin«, die bereits auf mich wartete, um ihre Klagen
und Beschwerden loszuwerden. Sie hatte sich wundgelegen, was bei ihrer Magerkeit kein Wunder war. Ich verordnete ihr eine
Salbe und mußte dann noch auf ihren Wunsch ihren Bauch abtasten und ihr zum Einschlafen eine Valium verschreiben. Ich war
wieder auf dem Weg in mein Dienstzimmer, wo ich einige Arztbriefe diktieren wollte, als ich über den Pieper in die Aufnahme
gerufen wurde. Ein Mann von Anfang 50 mit Verdacht auf Herzinfarkt war eingeliefert worden. Der Mann klagte über starke, in
Schulter und linken Arm ausstrahlende Schmerzen hinter dem Brustbein und war sichtlich in Panik. Das gerade geschriebene EKG
zeigte die charakteristischen Veränderungen. Er hatte eine Menge Extrasystolen und Blutdruckabfall mit den Anzeichen eines
kardialen Schocks. Ich spritzte ihm Morphium und ließ ihn auf die Intensivstation bringen.
Ich hatte danach keine Lust, mich gleich an die Arztbriefe zu setzen, und fuhr erst einmal in die Kantine im 6. Stock, die
in einer halben Stunde schloß, um etwas zu trinken und zu essen. Ich ließ mir zwei belegte Brötchen und eine Flasche Mineralwasser
geben, und als ich mein Tablett zu einem Tisch an der Fensterreihe trug, winkte mich Sibylle an ihren Tisch, eine Anästhesistin,
die früher viel mit Paul zusammengearbeitet hatte. Sie fragte gleich nach ihm und bat mich, Grüße zu bestellen. Dann schloß
sich Klatsch über ihren neuen Chef und einige jüngere Kollegen an, und schließlich sprachen wir über unsere Urlaubspläne. Ich fragte sie, ob sie
mal in Florida gewesen sei. Das war sie nicht. Aber sie war zweimal auf den Bahamas und wollte in diesem Jahr wieder hin.
Als sie ging, schaute ich ihr nach. Sie war schlank und hatte den herausfordernden Gang einer selbstbewußten oder selbstgefälligen
Frau, und ich fragte mich, ob sie nicht auch eine von Pauls Liebschaften gewesen war, bevor unsere Geschichte begann, die
nun in ein neues Stadium trat, nach dem nichts mehr so sein würde wie vorher.
Zu viert hatten wir immer so getan, als seien wir ein bewährter, festgefügter Freundeskreis, und ich wunderte mich darüber,
wie voreilig ich mit der Möglichkeit zu rechnen begann, das alles könne sich plötzlich auflösen. Vermutlich hatten wir alle
immer schon geahnt, wie zerbrechlich die Harmonie unseres Zusammenlebens war. Es war ein System ständiger gegenseitiger Rücksichtnahme
mit vielen ungeschriebenen Spielregeln, das zusammenbrechen mußte, wenn sich irgendein starkes Interesse querstellte.
So gesehen brauchte ich nur zu warten, dann würde ich früher oder später erfahren, woran ich mit Paul und Anja war. Das war
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