Der Liebeswunsch
um seine
Wunden zu heilen. Und so hatte er die Zeit unserer Abwesenheit ausgenutzt, sie auf seine beharrliche und systematische Art
zu umwerben, der sie, so ziellos wie sie war, nichts entgegenzusetzen hatte. Sah sie es so? War es das, was sie beunruhigte?
Wir waren vier Figuren auf einem engen Spielfeld und hatten uns nach einer Logik bewegt, die sie, die zuletzt Hinzugekommene,
am wenigsten durchschauen konnte. Sie hatte deshalb auch die schlechteste Position in unserer Gruppe bekommen, und ich vor
allem hatte versucht, sie in diesem neuen Leben zu bestärken. Forschte sie jetzt nach meinen Motiven? Haßte sie mich deshalb?
Zweifelte sie daran, daß ich ihre Freundin war?
Ich hatte, während ich sie ansah, das unangenehme Gefühl, daß sich hinter ihrer Stirn etwas verschob und vor allem ihr Verhältnis
zu mir sich unabsehbar veränderte, sah aber keine Möglichkeit, sie darauf anzusprechen. Ich goß ihr Kaffee nach und schob
ihr den flachen Korb mit dem Früchtebrot und den Keksen hin. Sie trank einen Schluck und nahm einen Keks, um ein Stück davon
abzubeißen. Mir fiel wieder der Gegensatz zwischen dem gedankenverlorenen Blick ihrer Augen und der Beweglichkeit ihrer schön
geschwungenen Lippen auf. Ich verstand, weshalb sich manche Männer nach ihr umdrehten, obwohl sie es nie darauf anlegte und
es in ihrer Achtlosigkeit meistens auch gar nicht bemerkte. Auch auf mich wirkte ihre schlafwandlerische Sinnlichkeit, nicht
zuletzt deshalb, weil man nie wußte, ob es eine Täuschung war. Manchmal hatte ich Lust verspürt, sie in den Arm zu nehmen,
es aber stets vermieden, weil ich sie nicht einschätzen konnte. Mehr als freundschaftliche Zärtlichkeit war es wohl nicht,
was ich für sie empfand, und ich wollte mir weder die Finger verbrennen noch mich abschütteln lassen.
Um sie wegzuführen von dem heiklen Thema, fragte ich, ob sie inzwischen wieder Lektoratsgutachten für Funk und Fernsehen schriebe.
Sie sagte, daß sie bald wieder damit anfangen wolle, aber noch zu sehr mit Daniel beschäftigt sei.
»Aber du hast doch deine Mutter als Hilfe im Haus.«
»Ja«, sagte sie, »ich hoffe aber, sie reist bald wieder ab.«
Ich nickte. Nach einer kleinen Pause sagte ich: »Von deinem Vater hast du mir noch nie was erzählt.«
»Da gibt’s auch nichts zu erzählen«, antwortete sie. »Er hat sich davongemacht, als ich gerade vier war.«
»Wie sah er aus? Gleichst du ihm? Deiner Mutter siehst du ja nicht ähnlich.«
»Ich weiß nicht mehr, wie er aussah. Ich habe nie ein Bild von ihm zu sehen bekommen. Meine Mutter hat alle Fotos verbrannt,
um die Erinnerung an ihn auszulöschen. Im wesentlichen hat sie das geschafft. Nur manchmal habe ich geträumt, ich schliefe
und die Tür meines Zimmers öffne sich lautlos und jemand träte ein, um mich zu betrachten. Ich wußte, daß es mein Vater war,
konnte aber nicht die Augen öffnen, um ihn zu sehen.«
»Und deine Mutter hat nie von ihm gesprochen?«
»Doch, sie hat gesagt, er sei tot. Und sie hat angedeutet, daß er ein schlechter Mensch war.«
»Das hört sich so an, als könne es nicht stimmen.«
»Ich weiß es nicht.«
Sie sprach nicht weiter, und die schläfrige Gleichgültigkeit, die ich von anderen Augenblicken der Abwesenheit an ihr kannte,
überzog wieder ihr Gesicht. Schließlich sagte sie: »Ich habe noch eine andere Erinnerung an ihn. Aber auch da sehe ich ihn
nicht. Ich spüre nur, er trägt mich auf seinem Arm und tanzt mit mir ein paar Schritte. Wir drehen uns im Kreis, und rings
um uns sind Leute, die Beifall klatschen. Wenn mir dieses Bild im Einschlafen vor Augen kam, war ich immer sehr glücklich.«
»Träumst du noch manchmal davon?«
»Nein, schon lange nicht mehr. Ich versuche manchmal, daran zu denken. Das ist aber nicht dasselbe.«
»Danke, daß du es mir erzählt hast«, sagte ich und wollte einen Moment ihre Hand drücken. Aber sie ahnte es und zog die Hand
zurück. Statt dessen griff ich die Kanne, die aber leer war.
»Möchtest du noch?« fragte ich.
»Nein, danke«, sagte sie.
Kurz danach hörten wir Paul nach Hause kommen, geräuschvoll, wie es seine Art ist. Ich hatte nicht damit gerechnet, ihn noch
zu sehen, da sein normaler Dienst bis 17 Uhr dauerte. Er hatte aber den ganzen Vormittag operiert und nach dem Mittagessen
anstelle eines in einen Autounfall geratenen Kollegen noch eine schwierige Notoperation gemacht und war dann vorzeitig abgelöst
worden. Er war offensichtlich
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