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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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Schweigen.
     
    Mein Abgang hatte keine Schwäche verraten, aber ich kann nicht behaupten, daß ich gefaßt war. Ein Gewirr widersprüchlicher
     Gefühle erfüllte mich: Ratlosigkeit und Staunen und ein lautloses Gelächter. Warum hatte ich dasnicht kommen sehen? Warum hatte ich es nie für möglich gehalten?
    Du mußt es doch eigentlich wissen, sagte ich mir. Ich hatte Leonhard mit Paul hintergangen und Paul veranlaßt, seine Familie
     zu verlassen, immer in dem Gefühl, ein besonderes Recht allerhöchsten Ranges zu haben. So war es gerecht, wenn ich jetzt darüber
     belehrt wurde, daß die hochgeworfene Glücksmünze zwei Seiten hat, auf die sie fallen kann.
    Das half mir zwar nicht. Aber ich durfte mich auch nicht verrückt machen. Vielleicht war das Ganze nur ein Flirt, und weder
     Paul noch Anja würden die Grenzen überschreiten. Dafür hing zu viel daran – unser ganzes gemeinsames Leben, das wohl keiner
     von ihnen aufs Spiel setzen wollte. Es war nicht gerade ein berauschender Gedanke, aber ein realistischer, und ich war inzwischen
     bereit, ihn ins Kalkül zu ziehen.
     
    Als ich meinen Wagen in den Hof des Krankenhauses fuhr und auf meinen angestammten Platz stellte, fühlte ich mich schon ruhiger.
     Jetzt wollte ich mich erst einmal um meine Pflichten kümmern. Ich ließ mir an der Pforte meinen neu aufgeladenen Pieper aushändigen
     und fuhr in die Station hoch, wo im Dienstzimmer Thomas, mein Kollege, schon auf mich wartete, weil er zur Geburtstagsfeier
     seiner kleinen Tochter nach Hause wollte. Er informierte mich kurz über die Neuaufnahmen in der Inneren Abteilung – acht in
     den letzten 24 Stunden –, unter denen einige problematische Fälle waren, unter anderem eine 68jährige Frau mit Herzinsuffizienz
     und Anfällen von Atemnot, deren Beine ödematös geschwollen waren. Dann gab es einen 74jährigen Mannmit einem schon einen Monat zurückliegenden Schlaganfall, der aus einem anderen Krankenhaus überwiesen worden war. Man hatte
     bei ihm eine Verschattung in der Lunge festgestellt, offenbar ein bisher übersehenes Karzinom. Nun nahm man an, daß der Tumor
     möglicherweise gestreut hatte und der Schlaganfall durch Metastasen im Gehirn ausgelöst worden war. Morgen sollte eine Schichtaufnahme
     gemacht werden. Ferner gab es einen jugendlichen Fixer mit einer Hepatitis, der sich vermutlich mit der Nadel infiziert hatte,
     und einen älteren Mann mit Nierenversagen und einem extrem hohen Blutdruck von 270, der trotz umfangreicher Medikation immer
     noch bei 200 lag.
    Für die Innere Abteilung war das eher eine unterdurchschnittliche Anzahl an Problempatienten. Ich mußte aber mit weiteren
     Einlieferungen rechnen. Und natürlich war da auch noch unsere Höllenfürstin, so nannten wir eine Frau Mitte Fünfzig, die eine
     fortgeschrittene Colitis ulcerosa hatte und wohl bald operiert werden mußte. Es war eine schwarzhaarige, völlig abgemagerte
     Person mit blauen Lidschatten und dicken Tränensäcken, an deren zerbrechlich wirkenden, dünnen Handgelenken schwere goldene
     Armreifen hin und her rutschten. Sie hatte ein Einzelzimmer bekommen wegen der hygienischen Kalamitäten und der Ausdünstungen
     ihrer Krankheit, die sie mit einem schweren Parfumduft zu übertönen versuchte. Den Namen »Höllenfürstin« hatte sie nicht nur
     wegen ihres Aussehens erhalten, sondern auch wegen ihrer Herrschsucht, mit der sie die Krankenschwestern tyrannisierte.
    Manchmal bekam sie Besuch von einem vielleicht zwanzigjährigen Homosexuellen mit einer goldblond gefärbten Bürstenfrisur,
     der immer weiße Hemden und weiße Hosentrug. Er wurde der »Unschuldsengel« genannt. Gewöhnlich saß er eine halbe Stunde an ihrem Bett und hörte sich ihre Klagen
     und Beschwerden an, um danach sichtlich erleichtert zu verschwinden. Die Schwestern witzelten über ihn, schienen ihn aber
     zu mögen, weil er so hübsch und höflich war. Thomas meinte, daß die Höllenfürstin steinreich sei und der Unschuldsengel auf
     ihren Tod wartete, um sie zu beerben. Ich glaubte das nicht. Abgesehen davon, daß es bis zu ihrem Tod noch etliche Jahre dauern
     konnte, war das eine zu simple Hypothese, die vor allem dem hausbackenen Realismus von Thomas entsprach. Was diese beiden
     seltsamen Menschen verband, war nach meiner Meinung viel komplizierter. Vermutlich waren sie sich nicht einmal selbst darüber
     im klaren und folgten nur ihrem eingespielten Ritual.
    Ich sagte das Thomas, der achselzuckend antwortete »von mir aus« und

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