Der Liebeswunsch
nicht einfach für mich. Ich war schlecht dazu geeignet, in einer unklaren Situation zu leben. Aber vermutlich war es noch
schwerer, eine Leidenschaft so zu zügeln, daß sie von der Umgebung nicht bemerkt wurde. Sie würden es irgendwann leid werden,
alle die Einschränkungen hinzunehmen, die ihnen der Zwang, sich zu verstellen, auferlegte. Einer würde unvorsichtig werden
und den anderen mitziehen und weiterdrängen. So hatte ich es damals mit Paul auch getan. Warum sollte es Anja nicht genauso
machen? Ich hatte doch schon jetzt erlebt, wie benommen sie waren, kaum fähig, darauf zu reagieren, daß ich noch bei ihnen saß.
Das hatte mich am meisten verstört. Ich erinnerte mich an das wachsende Gefühl von Lähmung und Ohnmacht, mit dem ich in den
letzten Minuten zwischen ihnen saß und schließlich ging, weil ich in den Dienst mußte. Auch sie waren sicher noch einen Augenblick
gelähmt gewesen, als die Tür hinter mir ins Schloß gefallen war. Aber ihr Schweigen, das ich hinter mir gespürt hatte, als
ich sie verließ, war schon ihr gemeinsames Schweigen gewesen, ein wortloses Eingeständnis, daß nichts mehr zu sagen übrigblieb.
Das Rufsignal meines Piepers befreite mich von diesen Gedanken. Ich trank den Rest meines Mineralwassers und ging ans nächste
Telefon, um mich zu melden. In der Rettungsstelle war ein Mann Anfang 70 mit akuter Atemnot und Erstickungshusten und der
Diagnose »schwere Bronchitis« und »Verdacht auf Lungenentzündung« eingeliefert worden. Ich hörte schon im Korridor seinen
Hustenkrampf. Der Mann saß aufrecht im Bett, umgeben von zwei verschreckten Krankenschwestern, die ihm die verrutschte Sauerstoffmaske
wieder anlegen wollten. Aber er war in Panik und schwer zu halten. Er hatte blasiges, rötliches Sekret ausgehustet, und ich
hörte gleich, als ich eintrat, das Rasseln und Brodeln seiner Lunge. Er war kaltschweißig und blaß, und mir war klar, daß
der Mann ein Lungenödem hatte. Möglicherweise steckte ein frischer Infarkt dahinter. Es war aber unmöglich, ihm ein EKG anzulegen,
so unruhig wie er war. Ich spritzte ihm Morphium und Furosemid und überlegte, ob ich ihn intubieren und absaugen sollte, entschloßmich dann aber, ihn sofort in die Intensivstation zu bringen. Ich sagte der Schwester, sie solle dort Bescheid sagen, daß
wir gleich mit ihm kämen, und versuchte, den Mann so gut es ging zu beruhigen, während die zweite Krankenschwester und ein
herbeigerufener Pfleger das Bett auf den Korridor hinausschoben.
Als ich kurz danach in mein Dienstzimmer zurückkam, zog ich meinen befleckten Kittel aus, desinfizierte meine Hände und trank
eine halbe Flasche Mineralwasser, bevor ich mich setzte. Ich war stolz auf meine schnelle Diagnose, die offenbar richtig gewesen
war. Der Patient würde wahrscheinlich gerettet werden. Ich brauchte jetzt erst einmal eine kleine Pause.
Glücklicherweise wurde es in den nächsten Stunden ruhiger. Ein volltrunkener Alkoholiker wurde eingeliefert. Er hustete, und
ich hörte Herz und Lunge ab, während er dauernd unverständliches Zeug lallte. Der Pfleger sagte, daß der Mann schon ein alter
Kunde sei. Dann gab es nur noch Routinesachen: Patienten, die nicht schlafen konnten und eine Schlaftablette wollten, darunter
die Höllenfürstin, der ich eine weitere Valium zugestand. Einmal mußte ich eine Infusion erneuern, die ins Gewebe lief. Zweimal
wurde ich wegen okkulter Schmerzen gerufen, die vermutlich auf innere Spannungen zurückgingen. In beiden Fällen verordnete
ich ein Beruhigungsmittel. Wieder zurück in meinem Dienstzimmer, zwang ich mich noch, drei längst fällige Arztbriefe ins Diktaphon
zu sprechen. Dann kämpfte ich den Wunsch nieder, Paul anzurufen und, wie wir es früher oft getan hatten, ein längeres Nachtgespräch
miteinander zu führen. Aufgelöst vor Müdigkeit, sehnte ich mich nach seiner Stimme und bildete mir ein, alles wäre sofort
gut, wenn ichihm das sagen könnte. Ich wußte aber, daß es nicht stimmte, und daß es auf jeden Fall falsch sei, meinem Bedürfnis nachzugeben,
ohne daß ich wußte, woran ich mit ihm war. Plötzlich fühlte ich mich todmüde und ausgebrannt und legte mich hin.
Ich muß sofort angefangen haben zu träumen – wirres Zeug zumeist, an das ich mich nicht erinnern kann, außer an das Bild eines
altmodischen Raddampfers, dessen Rumpf mit riesigen Rostflecken besät war. Vom Bug des Schiffes war ein großes Stück abgebrochen,
so daß
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