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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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er wie ein aufgesperrtes Fischmaul aussah. Das Ganze begann schon wieder zu verblassen, als die Dampfpfeife des Schiffes
     einen durchdringenden Pfiff ausstieß, in dem ich, mühsam erwachend und wahrscheinlich mit einiger Verzögerung, das Rufsignal
     meines Piepers erkannte. Weil ich, völlig umnebelt, nicht sofort den Lichtschalter fand, tappte ich im Dunkeln zum Telefon.
     Die aufgeregte Stimme der Schwester von Station 11 meldete sich und sagte, Frau Kremer, die alte Dame mit dem insuffizienten
     Herzen, habe einen Herzstillstand.
    »Wann ist es passiert?« fragte ich.
    »Ich weiß nicht genau«, sagte die Schwester, »vor einer Viertelstunde hat sie noch geatmet.«
    »Geben Sie ihr Sauerstoff und beginnen Sie mit der Herzmassage«, sagte ich. »Ich bin gleich da.«
    Als ich in das Zimmer kam, waren die Schwester und ein Pfleger mit dem leblosen Körper der alten Frau beschäftigt, machten
     mir aber sofort Platz, weil es ihnen nicht gelungen war, den Kreislauf wieder in Gang zu bringen.
    Die Patientin hatte das typische eingefallene Totengesicht mit grauer blutleerer Haut. Die Pupillen waren extrem geweitet
     und reglos. Der Defibrillator wurde gebracht. Ichwußte, daß wir uns das sparen konnten. Ich versuchte es trotzdem, mit einem Schock von 300 Wattsekunden das Auferstehungswunder
     zu vollziehen. Der Körper der Frau zuckte und fiel gleich zurück in seine Totenstille.
    »Hat sie Angehörige?« fragte ich die Stationsschwester.
    »Einen Sohn in Stuttgart«, antwortete sie.
    »Gut, wir rufen ihn heute früh an«, sagte ich und ordnete an, die Tote noch eine Stunde im Bett liegenzulassen und dann in
     den Kühlraum des Leichenkellers zu schaffen. Nachdem ich den Totenschein ausgeschrieben hatte, ging ich zurück in mein Zimmer
     und versuchte wieder einzuschlafen. Gegen Morgen wurde ich zu einem weiteren Todesfall gerufen. Diesmal war es ein Patient,
     der nicht zu den Problemfällen gehörte, aber anscheinend einen Sekundentod gestorben war. Es war ein Fall für eine Obduktion.
     Mir oblag es, seine Frau anzurufen, die hier in der Stadt lebte, damit sie ihn noch sehen konnte, bevor er ins Kühlfach kam.
     Ich zögerte den Anruf etwas hinaus. Sie war völlig verstört, wollte aber sofort kommen, und ich wartete auf sie, um mit ihr
     zu sprechen. Mir war beklommen zumute. Der Mann war erst Mitte 50 und als Diabetiker zur Beobachtung hier. Ich hatte keine
     Erklärung für seinen plötzlichen Tod. Immerhin konnte ich der Frau, einer kleinen, verschüchterten und sichtlich geschockten
     Person, mit einiger Glaubhaftigkeit versichern, daß ihr Mann vermutlich im Schlaf gestorben sei. Bemüht, alles richtig zu
     machen, erteilte sie die Erlaubnis zur Obduktion.
    Ich war erschöpft und überdreht, brachte es aber doch fertig, noch zwei Arztbriefe zu diktieren, während im Krankenhaus mit
     dem Wecken der Tagesbetrieb begann. Ich wartete, bis die Kantine öffnete, und fuhr hinauf, um mit einem Blick über die Stadt
     den ersten Kaffee zu trinken und zufrühstücken. Als ich wieder ins Dienstzimmer kam, war Thomas da. Wir gingen zusammen zur Ärztekonferenz, wo ich kurz über
     den ungeklärten Todesfall berichtete. Um 10.15 Uhr war ich zu Hause. Paul war natürlich längst in den Dienst gefahren. Ich
     hoffte, eine Nachricht von ihm zu finden, wurde aber enttäuscht.
     
    Wahrscheinlich habe ich einen schweren Fehler gemacht, damals, in der Nacht, als ich meinen Wunsch unterdrückte, Paul anzurufen
     und mich mit ihm auszusprechen. Wenn ich meine Gefühle und Befürchtungen gestanden hätte und auch die schmerzliche Sehnsucht
     nach ihm, die ich empfand, und wenn ich ihn gebeten hätte, offen zu mir zu sein, damit wir über alles miteinander reden konnten,
     dann hätten wir sicher eine gute Chance gehabt, mit unserer Krise fertigzuwerden. Auch wenn Anja und Paul mich damals, als
     sie allein zurückblieben, hintergangen hatten – er hat das allerdings immer bestritten –, wäre das eine vorübergehende Irritation
     geblieben, wenn wir uns darüber ausgesprochen hätten. Der erste Schritt dazu hätte von mir getan werden müssen. Ich war aber
     unsicher und wollte keine Schwäche zeigen. Als Paul gegen Abend nach Hause kam, sprach ich über lauter andere Dinge, und er
     bemühte sich, auf meinen Ton einzugehen. Wir taten vertraut und waren doch weit voneinander entfernt. Jeder beobachtete den
     anderen. Jeder versteckte sich hinter geheuchelter Natürlichkeit. Möglicherweise gab es dafür keinen wirklichen

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