Der Liebeswunsch
konnte er die Herstellung lebbarer Ordnungen als
einen Auswahlprozeß beschreiben, der Inseln von Sinn aus dem Rauschen der Totalität hervorhob. Und das war die Rahmenvorstellung,
in der er den Strafprozeß beschreiben wollte, als ein Verfahren zur Sicherung eines Raumes wünschbarer, wechselseitiger menschlicher
Erwartbarkeiten, der ständig vom Rauschen abweichender Möglichkeiten gestört und verwischt wurde. Dabei mußte er die Probleme
der Wahrheitsfindung und der Legitimation von Urteilen besser herausarbeiten. Und zum Schluß wollte er dann vom unabschließbaren
Urteil sprechen und es als einen notwendigen Tribut an die unüberschaubaren Möglichkeiten und Widersprüche des Lebens interpretieren.
Ja, das war eine Formulierung, die er sich gleich merken wollte. Vielleicht würde der ganze Vortrag entscheidend gewinnen,
wenn ihm noch einige weitere Präzisierungen gelangen. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, das Nötigste zu tun.
Er arbeitete, Erdnüsse kauend und Mineralwasser trinkend, in fliegender Hast und kam erst gegen Morgen, als die Erschöpfung
zunahm, auf den Gedanken, den Nachtportier anzurufen und zu fragen, ob er einen Kaffee bekommen könne. Der Portier wollte
schauen, was er tun könne, und brachte ihm eine Viertelstunde später eine Kanne mit starkem Kaffee und ein Gedeck vom Frühstücksgeschirr
samt Sahne und Zucker aufs Zimmer und ging zufrieden mit einem Zwanzigmarkschein wieder weg.
Leonhard trank rasch hintereinander drei Tassen von dem starken Gebräu. Es machte ihn ein wenig zittrig, wie er an seiner
Schrift sah, aber schließlich brachte er den Text zu Ende. Er rasierte sich, band eine Krawatte um und ging zum Frühstück.
Aurich saß schon da und winkte, als er in den Frühstücksraum trat, und erkundigte sich, wie er geschlafen habe.
»Nicht so prächtig«, sagte er. »Und leider nur knapp die halbe Nacht.«
»Warum? Wegen des Wetters?«
»Vielleicht auch«, sagte er.
Dann fügte er hinzu, als müsse er um Verständnis für seinen Zustand bitten: »Ich mußte meinen Vortrag noch einmal überarbeiten.«
»Ach«, sagte Aurich und schaute ihn erstaunt an.
»Jaja«, sagte Leonhard, »ich habe viel zu spät angefangen. Und dann kam im letzten Moment noch allerhand dazwischen.«
»Wie das so ist«, sagte Aurich, um ihm unbegrenztes Verständnis zu bekunden. Oder war das Ironie?
Warum habe ich das überhaupt erzählt, dachte er, als er zum Buffet ging und sich mit Rührei und Toast bediente. Dann ging
er noch einmal zurück, füllte den üblichen Obstsalat mit Joghurt in eine Glasschale und nahm sich ein Glas Orangensaft.
»Wir haben doch noch etwas Zeit?« fragte er, als er sich wieder zu Aurich an den Tisch setzte.
»Absolut«, sagte Aurich. »Wahrscheinlich beginnt es heute sowieso mit Verspätung, denn der Eröffnungsvortrag muß leider ausfallen.«
»Wieso? Ich habe doch Benthaus gestern abend noch gesehen?«
»Ich auch. Wir haben sogar noch längere Zeit zusammengesessen. Er hatte aber heute nacht eine Herzattacke und wurde ins Krankenhaus
gebracht.«
»Ein Infarkt?«
»Ich nehme an.«
»Das hätte mir heute nacht auch passieren können. Schon wegen des plötzlichen Wetterumschwungs.«
»Man weiß es wirklich nie«, nickte Aurich.
Dann blickte er auf seine Uhr und sagte: »Entschuldigen Sie mich bitte. Ich muß noch telefonieren.«
Leonhard bestrich eine Scheibe Toast mit Butter und bepackte sie mit Rührei. Ja, das hätte mir auch passieren können, dachte
er. Ich bin dicht daran vorbeigeschrammt.
Vorsichtig, damit kein Rührei herunterfiel, biß er ein Stück von dem Toast ab und kaute langsam, als müsse er prüfen, was
er im Mund hatte. Er fühlte sich flau. Und der Tag, der ihm bevorstand, belastete ihn wie ein schweres Gewicht, das man ihm
umgehängt hatte. Aber wie schon oft hatte er sich selbst damit beladen, als er sich den Vortrag aufdrängen ließ. Doch damals,
Monate vor der Floridareise, war er in einer anderen Verfassung gewesen und hatte sich seine jetzige Lage nicht vorstellen
können. Nun war er in einen Engpaß geraten und stand in Gefahr, seinen Ruf zu verlieren. Trotz der Überarbeitung war der Vortrag
immer noch ein flüchtiges Elaborat, ausgestattet mit schnell zusammengetragenen Lesefrüchten. Einen Text wie diesen mußte
man locker vortragen, am besten frei. Dazu war er heute nicht fähig. Es war aber kaum einfacher, den Text abzulesen, den er
in der Nacht mit vielen, nicht gerade leserlichen
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