Der Lilienpakt
aufgeschlagen, auch sein Nachthemd lag noch immer fein säuberlich zusammengefaltet auf der dicken Daunendecke. Das Feuer im Kamin glomm nur noch schwach.
Verwundert drückte ich die Tür wieder ins Schloss. Wir hatten uns doch gemeinsam von unseren Eltern zur Nacht verabschiedet! Wo war Antoine jetzt? Vielleicht bei Roland oder Bernard?
Ich schlich zu den Türen ihrer Gemächer, doch auch dort war alles still. War ich denn die Einzige, die gehorsam zu Bett gegangen war? Warum hatten meine Brüder mich nicht geweckt, als sie beschlossen, die Nacht woanders zu verbringen?
An der Treppe vernahm ich plötzlich Stimmen.
»Was soll aus Euch werden, Vater?«, fragte Bernard aufgebracht. »Ich werde nicht von hier fortgehen und Euch allein lassen.«
»Du wirst gehen müssen, denn ich bin immer noch das Oberhaupt der Familie«, entgegnete Papa besonnen. »Und auch wenn du mein Erbe bist, wirst du dich meiner Weisung fügen.«
Warum sagte er so etwas? Wohin sollte Bernard?
Vorsichtig spähte ich über das Geländer hinweg.
Meine Eltern saßen mit meinen Brüdern im Schein eines fünfarmigen Kerzenleuchters vor dem erkalteten Kamin der Halle. Sie trugen die Gewänder vom vergangenen Abend und wirkten nicht, als seien sie im Bett gewesen.
Bei schweren Gewittern fanden wir uns manchmal zusammen und wachten die Nacht durch für den Fall, dass der Blitz ins Schloss einschlug. Doch warum hatte man mich nicht aus dem Bett geholt? Besprachen sie hier etwas, das nicht für meine Ohren bestimmt war? Angesichts der Merkwürdigkeiten der vergangenen Tage hätte mich das nicht gewundert.
Ein Blitz, der über die Galerie zuckte, erschreckte mich so sehr, dass ich aufschrie. Rasch hielt ich mir den Mund zu. Doch es war zu spät.
»Christine!«, rief mein Vater verwundert aus.
Meine Ohren und Wangen begannen zu glühen. Sicher würde es gleich eine Strafpredigt setzen!
»Das Gewitter wird sie aufgeschreckt haben«, bemerkte Antoine. »Ihr wisst doch, wie empfindlich ihr Gehör ist.«
»Und mit diesem Gehör wird sie wohl auch einiges mitbekommen haben, was sie nicht hören sollte«, fügte Bernard mit strenger Miene hinzu.
»Komm herunter, Christine«, sagte meine Mutter sanft.
»Aber Maman …«, wandte Roland ein, der neben ihrem Stuhl stand.
»Sie ist alt genug«, entgegnete meine Mutter. »Außerdem betrifft es sie ebenso wie uns.« Noch nie zuvor hatte ihre Stimme so ernst geklungen. »Komm, mein Kind, wir haben einiges zu besprechen.«
Beklommen stieg ich die Stufen hinab. Was erwartete mich? Eine traurige oder schlimme Nachricht? Mein Herz pochte wild und meine Hände wurden kalt.
Auf einmal wünschte ich mir, im Bett geblieben zu sein. Wenn ich mir die Decke über den Kopf gezogen hätte, wäre das Gewitter irgendwann vorübergegangen und ich hätte beruhigt schlafen können.
Unten angekommen suchte ich Antoines Blick. Auch er wirkte ernst, lächelte mir aber aufmunternd zu. Ich erwiderte sein Lächeln, dann trat ich vor meine Eltern.
Der Duft des Abendessens hing noch immer in der Luft. Die Kerzen auf dem Tisch waren fast vollständig heruntergebrannt.
Meine Eltern betrachteten mich nachdenklich. Offenbar waren sie sich nicht sicher, ob sie mir wirklich erzählen sollten, was hier vorging.
»Christine, du bist jetzt siebzehn Jahre alt«, begann meine Mutter, dann warf sie wieder einen vielsagenden Blick auf Papa. »Da du kein Kind mehr bist, solltest du erfahren …«
Täuschte ich mich oder hielten jetzt alle Anwesenden die Luft an?
Plötzlich meinte ich etwas zu hören, das nicht zu dem Sturmgetöse vor den Fenstern passte.
»Hufschlag!«, platzte es aus mir heraus. »Da kommen Reiter auf das Schloss zugeritten.«
Papa erbleichte plötzlich. Er hörte es nun auch.
»Gütige Mutter Gottes«, murmelte er, dann sprang er von seinem Platz auf.
Auch Maman wirkte auf einmal besorgt. Vergessen war das, was sie mir hatte sagen wollen.
»Jean!«, rief sie, doch da packte mich mein Vater bereits.
»Komm mit, Kind!«
»Wieso?« Seine Hand griff so fest zu, dass ich wimmerte.
»Das erkläre ich dir später.«
Ich hatte nicht die Kraft, mich gegen ihn zu wehren. Was sollte das alles?
Papa schleppte mich in den Fechtsaal, vor den Waffenständer.
»Papa, was ist los?«, fragte ich. Angst überfiel mich.
Während die Reiter auf den Schlosshof preschten, barg Papa mein Gesicht in seinen Händen. In seinen Augen glitzerten Tränen.
Noch nie hatte ich ihn weinen gesehen!
»Christine, du musst dich
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