Der Lilienpakt
schossen: Die Gesichter meines Vaters, meiner Mutter und meiner Brüder. Die Stimmen der Angreifer. Das Degenklirren. Die Schreie. Das Trampeln der Stiefel.
Als es vorbei war, überkam mich eine seltsame Schwere – und Leere.
Ich lauschte in die Stille hinein, diese furchtbare grabesgleiche Stille. Das Gewitter war abgezogen.
7
»Verfluchtes Mistwetter«, schimpfte Paul Garos, während er die Pferde über die schlammige Straße trieb. »Es ist, als würden alle Engel weinen.«
Dem Gewitter war Regen gefolgt, ein Wolkenbruch, so stark, als hätte der Himmel sämtliche Schleusen geöffnet. Die Straße war innerhalb weniger Augenblicke nahezu unpassierbar geworden.
Gegen Morgen wurde der Regen etwas schwächer.
Garos blickte sich nach seinem Sohn um. Dieser hockte unter der Wagenplane, die das herabstürzende Wasser schon lange nicht mehr abhalten konnte. Obwohl der siebzehnjährige Jules eine Decke um sich geschlungen hatte, zitterte er am ganzen Leib.
»Sind wir bald da, Vater?«, fragte er.
»Das Schloss müsste jeden Augenblick vor uns auftauchen.«
»Und wenn wir nun vom Weg abgekommen sind?«
Der Waffenschmied lachte auf. »Das ist unmöglich. Die Pferde stammen ursprünglich aus dem Stall des Comte, weißt du das nicht mehr? Sie würden den Weg hierher selbst dann finden, wenn sie blind wären.«
Der Junge zweifelte daran. Doch er widersprach seinem Vater nicht. Stattdessen wrang er die nassen Zipfel der Decke aus und zog sich den klammen Stoff dann wieder fester um seine Schultern.
Garos blickte wieder nach vorn. Langsam dämmerte der Morgen herauf. Bei besserem Wetter hätten sie das Schloss d’Autreville schon am Abend erreicht, aber der Comte würde die geringe Verspätung sicher verstehen. Schlimmstenfalls würde er ihm ein wenig vom Preis nachlassen müssen, aber das konnte Paul Garos verschmerzen. Der Comte würde es ihm mit weiteren Aufträgen danken.
Endlich tauchte der Bergfried vor ihnen auf.
Die graue Steinmauer umgab das Schloss, dessen Dächer mit roten Schindeln gedeckt waren. Der große Turm überragte in der Gegend fast alles.
Zwei kleinere gedrungene Türme bewachten das Tor, das seltsamerweise sperrangelweit offen stand. Der Waffenschmied fand das offene Tor nicht verwunderlich. In einem Haushalt wie dem der d’Autrevilles begann die Arbeit beim ersten Hahnenschrei, selbst bei solch einem Wetter.
Garos lenkte seinen Wagen auf das Tor zu und machte schließlich auf dem Schlosshof halt.
Alles war still. Nirgendwo ließ sich ein Bediensteter blicken. Ein paar Hühner liefen frei herum. In den Ställen wieherten unruhig die Pferde.
»Was ist denn hier los?«, murmelte der Waffenschmied, nachdem er die Bremse des Planwagens angezogen hatte.
Jules warf die klamme Decke von den Schultern und kletterte auf den Kutschbock. Sein Magen zog sich zusammen. Etwas Furchtbares musste hier geschehen sein, das die Bediensteten in die Flucht getrieben hatte.
Er blickte zu den Zinnen auf, doch der Blitz war nicht eingeschlagen. Aber vielleicht war den armen Menschen hier der Teufel erschienen?
Der Waffenschmied und sein Sohn sprangen gleichzeitig vom Kutschbock herunter und liefen zur Freitreppe, die in das Schloss führte.
»Hallo?« Die einzige Antwort auf Garos’ Ruf war das Echo seiner Stimme. Ein paar Tauben flatterten auf.
»Ist jemand hier?«, fragte Jules, aber auch er erhielt keine Antwort. »Vielleicht sollten wir drinnen nach dem Rechten sehen«, schlug er vor.
Garos presste die Lippen zusammen, dann nickte er ahnungsvoll. »Ja, sehen wir nach, mein Sohn.«
Ein Knarren schreckte mich auf. Verwundert stellte ich fest, dass ich im Schrank mit den Fechtwesten saß. Wie war ich hierhergekommen? Ich erinnerte mich nur noch, dass ich im Geheimgang gesessen hatte. War ich danach nach oben geklettert? Wie hatte ich die Fechtwesten beiseitegeschoben und die Luke wieder geschlossen?
Plötzlich wurde eine der Türen geöffnet.
Die Eindringlinge! Waren sie doch noch immer da?
Zeit, um wieder nach unten zu klettern, hatte ich nicht.
Ich erblickte einen groben Lederrock, und ohne die Person näher anzusehen, stieß ich meinen Degen vor und bohrte die Spitze in seinen Arm. Der Getroffene schrie auf. Seine Stimme klang sehr jung.
»Was ist los, mein Sohn?«, fragte ein weiterer Mann, während der erste stöhnte: »Jemand hat mich gestochen!«
Das klang nicht nach den Söldnern. Die hätten geflucht.
Ich blinzelte gegen die Helligkeit an und sah die Umrisse eines zweiten
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