Der Lilienpakt
Dinge, die Ihr eigentlich schon viel früher hättet erfahren sollen.«
»Welche Dinge?«
»Etwas über Eure Familie. Etwas über die Umstände, unter denen Ihr zum Comte d’Autreville gekommen seid.«
»Wie soll ich wohl zu ihm gekommen sein? Ich bin seine Tochter!«
Allmählich fragte ich mich, ob der Schmerz über den Verlust seines Cousins nicht Aramitz’ Verstand verwirrt hatte. »Euer Vater wird wohl schwerlich bei meiner Geburt dabei gewesen sein.«
Ein hintergründiges, etwas trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Bei Eurer Geburt war er nicht zugegen. Aber er stand vor dem Haus, in dem Ihr zur Welt kamt. Und er war einer der Männer, die dafür sorgten, dass Ihr am Leben geblieben seid.«
»Ihr seid verrückt!«, presste ich hervor. Plötzlich hatte ich das Gefühl, unter meinen Füßen würde sich ein Abgrund auftun.
»Das bin ich nicht, wie Ihr sehen werdet. Kommt mit zu meinem Vater. Er wird Euch alles erklären.«
Aramitz sah mich eindringlich an. Mein Mund wurde auf einmal ganz trocken. Offenbar meinte er es ernst.
»Hat das nicht Zeit bis zum Morgen? Die Totenfrau wird sicher gleich kommen.«
»Die Totenfrau weiß, wo sie den Schlüssel zu meinem Haus finden kann. Und wie Ihr gehört habt, wird der Totengräber länger brauchen, da Le Clerk und sein Sohn umgekommen sind.« Aramitz legte mir die Hände auf die Schultern. »Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Ich bitte Euch, sofern Ihr Euch stark genug fühlt, kommt mit mir. Mein Cousin war einer der Männer, die Euch verteidigten. Und die verzweifelt waren, als es hieß, Ihr wärt tot.«
Ich war verwirrt. Was sollte das alles? Ich würde es wohl nur erfahren, wenn ich mit ihm ging. Also nickte ich.
5
Wir eilten durch die verschneiten Gassen, ohne dass ich mir den Weg merkte. Ein Haus glich dem anderen. Aus einigen Fenstern drang schwaches Licht. Der Himmel war nicht vollständig dunkel, denn durch den Schnee herrschte ein seltsames Zwielicht. Die Häuser wirkten darin wie schwarze Schemen.
Die Schneeflocken zwangen mich, die Augen zusammenzukneifen. Vor einem unscheinbaren Haus mit schwarzem Fachwerk und grauen Ziegeln machten wir schließlich halt. Durch ein schmutziges Butzenfenster strömte schwacher Lichtschein.
Aramitz klopfte dreimal. Dann hörten wir schlurfende Schritte. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, doch die Tür öffnete sich nicht.
»Wir können eintreten«, erklärte der Musketier. »Mein Vater ist nicht bei bester Gesundheit, er zieht es vor, sich bei diesem Wetter keinem unnötigen Luftzug auszusetzen.«
Als er die Tür aufzog, strömte uns wohlige Wärme entgegen.
»Guten Abend, Vater!« Aramitz schloss die Tür und zog seinen Hut vom Kopf.
Der alte Mann vor der Esse sagte zunächst nichts. Er legte zwei Holzscheite nach und beobachtete, wie die Flammen sich gierig darüber hermachten. Während Funken durch das Feuerloch stoben und das Holz knackte, wandte er sich um.
»Henri, was führt dich zu mir?«, fragte er mit ruhiger Stimme. »Und wer ist dieser Bursche?«
Charles d’Aramitz zählte etwa fünfzig Lenze. Sein graues Haar fiel lang und lockig über seine Schultern, sein Bart an Kinn und Oberlippe wirkte ein wenig altmodisch. Der Mantel, den er über seinen knochigen Schultern trug, wirkte zerschlissen, die Kleidung darunter – Hemd, Kniehosen, Strümpfe und Spangenschuhe – waren allerdings neueren Datums. Die Furchen in seinem Gesicht erzählten von einem Leben voller Abenteuer. Außer seinen blauen Augen hatte er nicht viel mit seinem Sohn gemein. Aramitz schien eher nach seiner Mutter zu schlagen.
»Dieser Junge ist kein Junge, sondern ein Mädchen. Die Ziehtochter des Comte d’Autreville.«
Ziehtochter? Wieso Ziehtochter?
Die Augen des Mannes weiteten sich überrascht. Sogleich kam er zu mir. Kurz musterte er mein Gesicht, hob die Hand, berührte mich jedoch nicht. Als hätte er Angst vor mir, zog er sich wieder zurück und verneigte sich dann tief.
Was sollte das?
Fragend blickte ich zu Aramitz. Er nickte mir ermunternd zu. Doch wieso sollte ich Ermunterung nötig haben?
»Ihr seid gewachsen, Comtesse«, sagte der alte Aramitz. »Das letzte Mal, als ich Euch sah, wart Ihr nicht einmal so lang wie mein Arm.«
»Ihr kennt mich?«
»Das würde ich nicht behaupten, denn ich habe viel zu wenig Zeit mit Euch verbracht. Und dennoch war ich einer von denen, welche die ganze Zeit über Euch gewacht haben.«
»Und aus welchem Grund?«
Aramitz blickte zu seinem Sohn. »Sie weiß es
Weitere Kostenlose Bücher