Der Lilienring
ganz eindeutig erkannte er den Mann, den er vor anderthalb Jahren aus Köln ausgewiesen hatte. Ein feines Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, als dieser sich umdrehte, kurz stutzte und sie mit einer höflichen Verbeugung grüßte. Faucon grüßte zurück.
»Das ist ja der Petruchio!«, japste Graciella mit hochroten Wangen vor Aufregung.
»Das ist Césare de Colon, richtig, Mademoiselle«, bestätigte ihr der Sous-Préfet. »Hat Ihnen seine Darstellung gefallen?«
»Oh, er war hinreißend, nicht wahr, Marie-Anna?«
»Ja, er ist ein ganz ausgezeichneter Schauspieler.«
»Besser als früher?«, fragte Faucon und sah Marie-Anna in die Augen.
»Erheblich besser, Monsieur.«
»Sie haben ihn schon einmal spielen gesehen, Marie-Anna? Ich dachte, er sei erstmals hier in der Stadt.«
»Er trat früher unter einem anderen Namen auf, Herr Kommerzialrat.«
»Unter welchem?«
Marie-Anna nahm einen Schluck Wein und biss sich auf die Unterlippe. Aber dann sah sie dem Frager aufrichtig in die Augen.
»Jules Coloman, Monsieur Raabe.«
Er nickte knapp.
»Ich glaube, ich verstehe. Möchten Sie ihn nicht begrüßen?«
»Ich würde es schon gerne. Wir haben einander lange nicht gesehen.«
»Nun, dann gehen Sie, Kind.«
»Danke, Monsieur.«
Marie-Anna stand auf und bahnte sich den Weg zu dem Tisch, an dem die Theaterleute Platz genommen hatten. Jules sah sie kommen und sprang auf.
»Marie-Anna, Marie-Anna, ich dachte schon, du wolltest mich nicht mehr kennen.«
Beide Hände hielt er ihr ausgestreckt entgegen, und sie ergriff sie.
»Jules, du warst wundervoll auf der Bühne!«
»Ich habe dich in der dritten Reihe gesehen. Komm – ›Küss mich, Käthchen!‹«
»›Was, hier auf offner Straße...‹«
»›Was? Schämst du dich meiner?‹«
Marie-Anna lachte. »Nein, nein, Jules, das führen wir nicht weiter auf.«
»Dann setz dich wenigstens zu uns, oder musst du zu deiner Gesellschaft zurück?«
»Ich habe Urlaub bekommen.«
Jules zog einen leeren Stuhl an seine Seite und bot ihn ihr an.
»Trink den Champagner mit uns, Mädchen. Wir haben ihn uns verdient.«
»Durch welche Tat?«
»Wir werden die Ehre haben, vor der allerhöchsten, erlauchtesten Majestät aufzutreten. Wenn Napoleon im November die Stadt besucht, sind wir ein Teil der Lustbarkeiten, die ihm und seinem Gefolge geboten werden.«
»Das ist in der Tat eine Ehre. Ich hoffe, du kannst dich bezähmen, Jules, wenn der ›Empörkömmling‹ im Publikum sitzt.«
Jules grinste erheitert.
»Warne deinen Sous-Préfet schon mal! Ich weiß nicht, zu was ich alles fähig bin, wenn ich den kleinen Korsen vor mir sitzen sehe.«
»Mein Sous-Préfet ist er nicht.«
»Nein? Der andere Herr ist dein Begleiter? Wer ist es? Er sieht nicht schlecht aus. Ein Herr von Einfluss, würde ich annehmen.«
»Valerian Raabe.«
»Sagt mir nichts. Oder... warte mal? Hatte nicht die kleine Mimmi mal etwas mit ihm? Ein ständig heiserer Mann. Gut betucht. Verheiratet.«
»Kolonialhandel, Kunstsammler. Das junge Mädchen neben ihm ist seine Tochter Graciella, die andere ist Rosemarie, seine Nichte.«
»In dieser Begleitung führt er dich ins Theater? Ich hörte, er legt gewöhnlich mehr Diskretion an den Tag.«
Marie-Anna gluckste ein wenig.
»Braucht es große Diskretion, wenn ein Vater die Gouvernante seiner Tochter mit ins Theater nimmt?«
»Oh, dergestalt sind deine Beziehungen zu ihm?«
»Dergestalt, richtig, Jules. Faucon hat sich damals für mich verwendet, als wir verhaftet wurden. Seither bin ich in seinem Haus für den Unterricht des Mädchens zuständig und arbeite an der Katalogisierung der Sammlung mit.«
»Wie spießig.« »Es ist sehr angenehm, täglich drei Mahlzeiten zu erhalten, geheizte Zimmer zu bewohnen und die Wäsche gewaschen zu bekommen.«
»Alles das, was ich dir nicht bieten konnte, nicht wahr?«
»Es war ein wenig sehr bohème, Jules.«
»Aber aufregend.«
»Für dich.«
»Du schaust mit Verbitterung auf die Zeit zurück?«
»Nein, nein, eigentlich nicht. Es gab auch schöne Momente. Aber – ich werde älter, Jules. Ich brauche Sicherheit und Ruhe.«
»Wie lange wird das anhalten? Das Mädchen wird dir bald entwachsen sein. In zwei, drei Jahren heiratet sie. Was dann, Marie-Anna?«
»Ich werde ein gutes Zeugnis bekommen...«
»Sicherheit, Ruhe...«
»Ach, Jules, du schaffst es, mir jede Hoffnung zu rauben.«
»Welche Hoffnung hast du denn, Chérie?«
Marie-Anna blieb stumm.
»Er?«
Sie trank den perlenden
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