Der Lilienring
bevor.
28. Kapitel
Graciellas Leiden
Ein herbstlicher Sturm klapperte an den Läden, und vor dem Fenster sah man braune Blätter wie aufgeschreckte Schmetterlinge vorbeiflattern. Das Feuer im Kamin des Schulzimmers aber knisterte gemütlich, und hin und wieder fiel ein Stückchen verbranntes Holz raschelnd durch den Rost. Die Wolken hingen so tief und dunkel am Himmel, dass sie schon eine Lampe entzünden mussten, um den Absatz des Artikels zu lesen, der ihnen den Konversationsstoff bieten sollte.
»Können wir den dummen Uranus nicht mal ein wenig ruhen lassen, Marie-Anna? Was nützt mir das eigentlich zu wissen, wie weit er von der Sonne entfernt ist und wie lange er braucht, um sie einmal zu umkreisen? Ich werde ihn ja doch nie besuchen. Und diese mythologischen Geschichten sind ebenfalls so staubig, dass man beinahe niesen muss.«
»Da magst du Recht haben, Ciella. Aber stell dir vor, du lernst demnächst einmal einen absolut hinreißenden jungen Astronomen kennen. Was glaubst du, wie beeindruckt der von deiner Konversation ist, wenn du beiläufig derartiges Wissen einfließen lässt?«
»Ich sehe mich schon kokett mit dem Fächer wedeln und beiläufig über scharfe Sicheln und abgeschnittene Geschlechtsteile plaudern«, prustete sie los.
»Ähm... eventuell solltest du dieses Sujet mit etwas mehr Zartgefühl behandeln.«
»Na also. Lass uns endlich mal wieder über nützlichere Themen plaudern.«
»Schlag eins vor!«
»Erzähl mir von deiner Zeit mit dem Schauspieler. Warst du seine Geliebte?«
»Thema abgelehnt! Ist nicht in der gepflegten Konversation zu verwenden.«
»Bäh. Wir wollen über das Buch sprechen, das du Rosemarie zu Weihnachten geschenkt hast.«
»Thema abgelehnt. Hast du etwa darin gelesen?«
»Natürlich.«
»Heilige Anna! Du bist ein entsetzliches Mädchen.«
»Was hat die heilige Anna damit zu tun?«
»Ah, das ist ein brauchbares Thema. Die heilige Anna wird in meiner Heimat sehr verehrt, wusstest du das?«
»Thema ist langweilig. Aber, na gut, also die langweilige Anna.«
Marie-Anna konnte ihren Unterricht und ihre Konversationsstunden mit den Kindern und Graciella inzwischen wieder ohne Aufsicht durchführen. Madames offener Zorn hatte sich zwar gelegt, und eine mürrische Entschuldigung für die Unterstellung der Hochstapelei hatte sie ebenfalls geäußert. Aber sie schaffte es, ihr sehr wohl zu verstehen zu geben, dass sich ihre grundlegende Meinung nicht geändert hatte. Marie-Anna hätte ganz gut mit der geringen Beachtung leben können, die ihr die Dame des Hauses zuteil werden ließ, hätte sich das Klima zwischen ihr und dem Kommerzialrat nicht wieder stark abgekühlt. Nach jenem Theaterbesuch war er wieder merklich zurückhaltender geworden. Er verbrachte jetzt erneut die Abende weitgehend außer Haus und kam häufig erst spät in der Nacht zurück.
Es war seine Zimmertür, die etwas lauter als gewöhnlich zugeschlagen wurde, die Marie-Anna in dieser Nacht aufweckte. Sie wollte sich eigentlich gleich wieder umdrehen und weiterschlafen, als sie von nebenan ein seltsames
Geräusch hörte. Es klang, als versuche Graciella, ihr Bett zu verrücken. Quietschen und gelegentliches Rumpeln waren die Geräusche, die sie erzeugte. Da es ansonsten im Haus völlig still war, empfand Marie-Anna es als sehr störend, zumal der Schlaf ohnehin nicht wiederkommen wollte. Also warf sie sich den Morgenmantel über und klopfte leise an die Tür des Nebenzimmers.
Dort verstummte plötzlich jedes Geräusch. Sie klopfte noch einmal. Graciella musste wach sein, aber sie antwortete nicht. Etwas beunruhigt öffnete sie die Tür einen Spalt und flüsterte in das dunkle Zimmer: »Ciella, ich bin es, Marie-Anna. Ist etwas nicht in Ordnung?«
Ein halb ersticktes Schluchzen kam vom Bett.
»Marie-Anna. Hilf mir.«
»Himmel, Kind, was ist passiert. Moment, ich hole mein Licht, es ist ja so finster wie im Bauch des Wales hier drin. Wieso hast du denn das Nachtlicht ausgemacht?«
»Nicht ich.«
Marie-Anna huschte zurück in ihr Zimmer und kehrte mit einer angezündeten Kerze zurück.
»Heilige Anna!«
»Bitte …«
»Sofort, mein Herzchen, sofort.«
Marie-Anna hob die auf den Boden geglittene Bettdecke auf und legte sie über das frierende Mädchen, dann löste sie mit flinken Fingern die festen Stoffbänder, mit denen Graciellas Hände an die beiden oberen Bettpfosten gefesselt waren. Als sie befreit war, krümmte sich das Mädchen sofort zusammen und legte die Arme über den Kopf.
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