Der Lilienring
Zimperliese derart delikate Themen vor Männerohren ausbreiten kann? Die
zuckt ja schon bei der Erwähnung der Schaumgeborenen zusammen.«
Es war ein winziges Kichern zu hören.
»Na siehst du. So, und nun leg dich gemütlich hin. Hier, dein Kopfkissen schütteln wir auch noch mal auf. Ist dir wieder warm geworden?«
»Mh.«
»Jetzt schläfst du gleich ein. Sollte doch noch irgendwas sein, rufst du laut nach mir.«
»Danke, Marie-Anna.«
Berlinde sprach natürlich nicht mit Marie-Anna, sondern mit Madame. Die ließ sie zu sich rufen und erteilte ihr einen scharfen Verweis. Die Erziehung ihrer Tochter sei ausschließlich ihre Sache, und Einmischungen, wie in der Nacht geschehen, würde sie nicht mehr dulden. Doch das eigentliche Thema war offensichtlich Madame zu peinlich, um es laut auszusprechen. Marie-Anna nahm den Tadel gelassen entgegen und schwieg. Die Angelegenheit mit dem Schlüssel würde sie mit dem Hausherren diskutieren.
Er kam zur Zeit des Abendessens, und es gelang ihr, ihn auf dem Treppenabsatz aufzuhalten.
»Herr Kommerzialrat, ich muss Sie um eine dringende Unterredung bitten. Hätten Sie wohl heute noch eine halbe Stunde Zeit für mich?«
»Warum, Mademoiselle? Wollen Sie uns verlassen?«
Erstaunt sah sie ihn an.
»Aber nein, Monsieur. Es ist viel wichtiger.«
»Nun, dann werde ich mir wohl die Zeit nehmen müssen.« Er wirkte plötzlich belustigt, aber ihr Gesicht behielt seinen ernsten Ausdruck. »Ist etwas passiert, Marie-Anna?«
»Ja, Monsieur. Bitte, wenn es geht gleich nach dem Abendessen?«
»In der Bibliothek.«
»Danke.«
An diesem Abend war es Graciella, die nicht an der Mahlzeit teilnahm. Sie hatte sich mit Bauchgrimmen zurückgezogen, und Marie-Anna hatte Mathilda den heimlichen Wink gegeben, ihr dennoch ein Tablett mit Leckerbissen ins Zimmer zu bringen.
»Es herrscht mal wieder eine unerquickliche Stimmung in meinem Heim, Marie-Anna. Was haben Sie getan?«
»Herr Kommerzialrat, was kann ich tun, damit Sie nicht stets als Erstes davon ausgehen, dass ich diejenige bin, die für eine unerquickliche Stimmung sorgt?«
»Nichts, Mademoiselle. Sie sind immer die Urheberin. Und nun gestehen Sie.«
»Es gibt nichts zu gestehen. Ich möchte Sie lediglich bitten, Ihrer Tochter den Schlüssel zu ihrem Zimmer zur Verfügung zu stellen.«
»Blödsinn.«
»Herr Kommerzialrat, Graciella ist ein junges Mädchen, das einen Anspruch auf seine Privatsphäre hat. Ich möchte Sie sehr bitten, ihr den Schlüssel auszuhändigen.«
»Ein vierzehnjähriges Mädchen ist weit davon entfernt, eine Privatsphäre zu haben. Welche Heimlichkeiten hat sie zu verstecken? Naschkram, Putz, Schminkereien?«
»Nichts davon, Herr Kommerzialrat.«
»Dann braucht sie auch keinen Schlüssel. Ich schließe mein Zimmer auch nicht ab.«
»Ihr Zimmer würde wohl auch niemand wagen, unaufgefordert zu betreten.«
»Das ist ja auch etwas anderes. Wenn Graciellas Mutter das Zimmer betreten möchte, hat sie zum Beispiel jedes Recht der Welt dazu.«
»Sicher. Wahrscheinlich wird Graciella ihr auch jederzeit öffnen.«
»Also, wozu den Schlüssel?«
»Um ihr ein Mindestmaß an Ungestörtheit zu garantieren.«
»Wer stört sie denn?« Valerian Raabe betrachtete Marie-Anna eine Weile schweigend, dann fragte er plötzlich scharf: »Hat sich etwa einer unserer männlichen Bediensteten so weit vergessen...?«
»Nein, nein, Monsieur. Ganz gewiss nicht.«
»Marie-Anna, ich habe Sie gelegentlich als verständige junge Frau kennen gelernt, ihre Argumentation in diesem Fall ist jedoch äußerst dürftig. Also – zur Sache, Mademoiselle!«
»Ich bitte darum, Ihrer Tochter den Schlüssel zu ihrer Zimmertür auszuhändigen.«
»Und ich sage nein. Also, der Fall ist erledigt.«
»Nein, Herr Kommerzialrat. Das ist er nicht.«
»Dann geben Sie mir einen guten Grund an.«
»Ich bin an ein Versprechen gebunden.«
»Großer Gott, was für eine Theatralik! Man könnte meinen, Sie wollten einen Straftäter decken.«
»Herr Kommerzialrat, ich...«
»Hören Sie, verdammt noch mal, mit dem ewigen Kommerzialrat auf!«
Marie-Anna faltete die Hände im Schoß und begann erneut: »Monsieur Raabe, darf ich sie inständig bitten, Ihrer Tochter...«
»Nennen Sie mir Gründe, Mädchen!«
Marie-Anna schwieg.
»Sie sprechen nicht, weil es ein Mitglied meines Haushaltes betrifft?«
»Ja, Monsieur.«
»Wen? Herrgott, Marie-Anna. Ich reiße Ihnen nicht den Kopf ab. Los.«
»Es ist Ihre Schwägerin, Frau Berlinde. Sie
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