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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Vollkommen aufgelöstes Weinen schüttelte sie. Marie-Anna setzte sich auf die Bettkante, und als sie die Kleine in den Arm nahm, spürte sie, wie kalt sie geworden war.
    »Wer war das?«

    Aber Graciella war nicht in der Lage oder nicht bereit, ihr zu antworten. Mit milder Panik sah sich Marie-Anna im Zimmer um. Es deutete nichts auf Gewaltanwendung hin. Sie beleuchtete auch die Laken unter der Decke. Auch hier keine verräterischen Spuren.
    »Ciella, hier, trink ein Glas Wasser. Das vertreibt den Schluckauf.«
    Graciella schüttelte nur abwehrend den Kopf.
    »Mäuschen, ich kann dir nur helfen, wenn du mir erklärst, was hier vorgefallen ist. Was immer es war, es kann nicht so schlimm gewesen sein, dass ich es nicht verstehe. Ich bin doch deine Freundin, Ciella. Bitte, sprich mit mir. Hat dir jemand wehgetan?«
    Sie schüttelte nur wieder den Kopf.
    Langsam begann Marie-Anna, einen Verdacht zu schöpfen.
    »Ciella, Petite. Ist es etwas, wofür du dich schämst?«
    Ein ganz leichtes, ganz zaghaftes Nicken war zu erkennen.
    »Und irgendwer hat dich dabei erwischt?«
    Das Nicken wiederholte sich.
    »Dein Papa?«
    Heftigstes Kopfschütteln.
    »Wer, Mäuschen?«
    »Berlinde«, stöhnte es unter den Armen hervor.
    »Diese gottverdammte alte Ziege! Schleicht die immer noch durch die Gänge und lauscht an den Türen? Ciella, hat sie dir die Hände ans Bett gefesselt?«
    Nicken.
    »War es das erste Mal?«
    Kopfschütteln.
    »Schon oft?«
    »Gestern. Und heute.«
    »Warum hast du nicht um Hilfe geschrien? Ciella,
    wenn sie das nächste Mal in dein Zimmer kommt, dann
brüllst du bitte das gesamte Haus zusammen. Du kannst gewiss sein, ich schneide ihr beide Ohren und die Nase ab!«
    »Aber sie hat gesagt, es muss sein.«
    »Was muss sein? Dass deine Hände gefesselt werden?«
    Nicken.
    »Ciella, komm ein bisschen aus deiner Höhle heraus. Wir müssen miteinander reden.«
    Langsam tauchte ein rotes, tränenverquollenes Gesicht aus den Kissen auf.
    »Was hat sie dir angedroht?«
    »Dass... dass ich hysterisch werde und Krämpfe kriege. Und Pickel und Pusteln bekomme. Und nicht mehr wachse. Und ewig krank sein werde. Und dass mein Gehirn aufweicht.«
    »Liebe Graciella, mir scheint, Berlinde leidet an all diesen Symptomen. Zumindest ist deren Gehirn reichlich aufgeweicht.«
    »Aber ich hab’ doch schon Pickel...«
    »In deinem Alter kriegt man nun mal Pickel. Aus allen möglichen Gründen. Davon, dass man seinen Körper entdeckt und seine Gefühle erkundet, sicher nicht. Weißt du was, Ciella? Wenn alles das stimmen würde, was sie behauptet, wäre die Menschheit wahrscheinlich schon komplett zu schwachsinnigen, pickeligen, hysterischen Zwergen zusammengeschrumpft.«
    »Glaubst du?«
    »Ich glaube, alle Menschen tun früher oder später das, was du getan hast.«
    »Bestimmt?«
    »Wenn du jetzt wissen willst, ob auch ich, dann antworte ich dir mit Ja.«
    »Aber der Arzt hat gesagt, das sei eine Krankheit. Woher weißt du, dass es anders ist?«

    »Weil ich Sophy hatte, meine Gouvernante. Die hat es vorgezogen, eine sehr deutliche Sprache in diesem Punkt zu sprechen. Sie war der Meinung, es sei wenig hilfreich, vor einer Sache zu warnen, ohne sie wirklich zu nennen. Was zwischen Frauen und Männern passiert, hat sie mir beschrieben, und auch wie ihre Körper beschaffen sind und reagieren. Von Krankheit war dabei nie die Rede.«
    »Marie-Anna, trotzdem – ich schäme mich. Was soll ich nur machen, wenn Berlinde das wieder tut? Ich kann doch nicht kreischen, denn dann kommt Papa und will wissen, warum. Das... das kann ich einfach nicht sagen.«
    »Dann müssen wir eben verhindern, dass Berlinde dein Zimmer betritt.«
    »Aber …«
    »Also, in meiner Zimmertür steckt ein Schlüssel im Schloss. Ich bin mir sicher, auch für diese Tür gibt es einen. Und den erhältst du morgen.«
    »Aber das wird man mir nicht erlauben!«
    »Wart es ab.«
    »Du verrätst mich aber nicht?«
    »Nein, Petite. Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich dich nicht verrate. Du versprichst mir dagegen, dass du dir deinen kleinen Trost nicht zu häufig gönnst. Ein bisschen wirr im Kopf kann das nämlich schon machen. Dein Vater ist ein kluger Mann, wenn er von Maßhalten spricht.«
    »Ich schwör’s dir, Marie-Anna.«
    »Gut, und wenn Berlinde morgen früh Theater macht, dann verweise sie an mich.« Marie-Anna grinste das Mädchen an. »Zu mir wird sie nämlich als Letztes kommen.«
    »Aber wenn sie zu Papa...?«
    »Ja, glaubst du denn, dass diese

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