Der Lilienring
besitzt. Es könnte wohl mal sein, dass dich ein Unwohlsein überfällt
oder das Haus brennt. Dann muss die Tür geöffnet werden können.«
»Ja, Papa, Sie haben natürlich Recht. Kann Marie-Anna den zweiten Schlüssel haben?«
»Sie soll ihn haben. Hoffen wir nur, dass in einem Notfall ihre Türe offen ist.«
»Monsieur, ich verspreche Ihnen, meine Tür unverschlossen zu lassen.«
Er lächelte sie an und nickte.
»Und jetzt lasst mir endlich meine Ruhe!«
29. Kapitel
Nacht im Hause des Kommerzialrates
Es war spät am Abend, Marie-Anna hatte sich schon zur Nachtruhe bereitgemacht. Das zarte, bestickte Nachthemd aus feinem Leinen war eigentlich zu leicht in der Kühle des Raumes, aber den wollenen Morgenrock mochte sie nicht überziehen. Dafür hatte sie den blauen Shawl um ihre Schultern gelegt. Beim Licht der Kerze saß sie vor dem Spiegel und bürstete sich die Haare. Die Flamme ließ gelegentlich goldene Reflexe darin aufleuchten. Sie gab ab und zu einen kleinen Tropfen Parfüm auf die Bürste, mit der sie Strähne für Strähne durcharbeitete. Einmal streifte sie ein kühler Hauch, als irgendwo eine Tür geöffnet wurde. Dennoch stand sie nicht auf, um ihre eigene Zimmertür zuzudrücken. Sie war einen kleinen Spalt offen, und ein schmaler Lichtstreif fiel daraus in den dunklen Flur.
Im Spiegel sah sie, wie sich die Tür weiter öffnete und leise geschlossen wurde. Langsam ließ sie die Bürste sinken. Der Mann in dem langen, silbergrauen Hausmantel nahm sie ihr aus der Hand, und mit langen, kräftigen Strichen fuhr ihr Valerian Raabe durch die Haare.
»Sie sind wundervoll, Marie-Anna.«
Er hob die blonde Masse an einer Seite hoch und beugte sich vor, um ihren Hals gerade oberhalb des Schlüsselbeins zu küssen. Sie schloss die Augen.
»Mein Herz, es ist kalt in Ihrem Zimmer. Und Ihr
Hemd ist bei weitem zu dünn, um damit am Spiegel zu sitzen. Haben Sie keinen Morgenrock?«
Sie sah zu dem wollenen Ding hin, das sich ein wenig zerzaust am Fußende des Bettes zu verstecken suchte.
»Oh, nun ja, sehr dekorativ ist der wohl nicht.«
»Nein.«
»In meinem Zimmer brennt ein warmes Feuer im Kamin.«
»Ja.«
Er schüttelte den Kopf und nahm die Hand von ihren Haaren.
»Haben Sie den zweiten Schlüssel erhalten?«
»Mathilda gab ihn mir, Monsieur. Er liegt hier in der obersten Schublade.«
»Könnten Sie sich wohl überwinden, mich mit meinem Namen anzureden, Marie-Anna?«
»Nein, Monsieur. Lieber nicht.«
»Warum nicht?«
»Hier, im Halbdunkel, Monsieur, mag eine solche Vertraulichkeit noch recht sein. Doch morgen, im Licht des Tages, werden Sie wieder der Herr Kommerzialrat und ich die Gouvernante Ihrer Tochter sein.«
»Wie Sie wünschen, Marie-Anna.« Er lächelte sie an und berührte mit einem flüchtigen Kuss ihre Stirn. »Ich danke Ihnen, dass Sie dennoch die Tür unverschlossen ließen.«
Zögernd drehte er sich um und ging zum Ausgang. Marie-Anna sah ihm nach, und als er die Tür öffnete, fragte sie leise: »Warum glauben Sie eigentlich zu wissen, was ich wirklich wünsche, Valerian?«
Er kam mit zwei Schritten zurück.
»Was wünschen Sie sich, Marie-Anna?«
Sie sah zu ihm hoch und zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Dann antwortete sie ein wenig heiser: »An einem warmen Kaminfeuer zu sitzen.«
Er nahm das Windlicht von ihrer Kommode und leuchtete voran. Es war still im Haus, und mit lautlosen Schritten überquerten sie den dunklen, zugigen Gang.
Im Arbeitszimmer des Hausherren war es warm und der Raum vom Feuer im Kamin erleuchtet. Ein schwerer Schreibtisch, mit Büchern und Papieren übersät, beherrschte die Mitte. An den Wänden zogen sich, wie in der Bibliothek, Regale voll mit ledergebundenen Büchern entlang. Einige Büsten und Skulpturen, alt, römischen und griechischen Ursprungs, und ein kleiner Globus befanden sich dazwischen. Dunkelblaue Portieren umgaben das Fenster, dicke, orientalische Teppiche bedeckten den glänzend gebohnerten Parkettboden. Vor dem Kamin standen zwei dunkle Ledersessel mit hohen Rückenlehnen, zwischen ihnen ein niedriger Tisch.
»Ich habe einen leichten, weißen Wein, wenn Sie mögen, Marie-Anna.«
»Lieber als einen roten, schweren.«
Er lachte leise auf, als er ihr einschenkte.
»Ja, ich erinnere mich. Er macht Sie schwindelig, und man muss Sie ins Bett tragen.«
»Es war mir sehr peinlich, Mon... Valerian. Damals, auf dem Turm.«
»Es war vielleicht ganz gut so – damals, auf dem Turm.«
Er füllte auch sein Glas und trank ihr
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