Der Lilienring
mit einem kurzen Nicken zu. Sie nippte an dem ihren und fand den Wein fruchtig, kühl und köstlich. Anmutig lehnte sie sich in den Sessel zurück, zog den Shawl enger um sich und streckte die Füße in Richtung des Feuers.
»Frieren Sie noch?«
»Nicht mehr sehr. Sie arbeiten sehr viel, scheint mir.«
»Hier? Ach nein, hier lese ich zu meiner Entspannung, versuche mich dilettantisch an der Deutung alter Schriften, führe meine Korrespondenz mit anderen
Sammlern, Forschern und Professoren. Ein trockenes Steckenpferd, das ich da reite, nicht wahr?«
»Das könnte es wohl sein, wenn man es wie Professor Klein angeht. Aber ich glaube, ich habe selbst die Faszination kennen gelernt, die die Zeugnisse der Vergangenheit ausüben können. Ich kann genauso wenig behaupten, die Arbeit an den Katalogen langweilig zu finden. Ich habe Bewunderung für die Handwerker und Künstler gelernt, deren Werke ich zeichne.«
»Ja. Es waren lebendige Menschen, die wie wir gelitten und geliebt haben, heiter ihrer Arbeit nachgingen, mit Inspiration und Schaffensfreude, oder die ihre Fehler gemacht haben. Es waren Menschen, durch deren Adern Blut floss. Die zwar gestorben sind, deren Körper zu Staub zerfallen, deren Gedanken, Gefühle und Hoffnungen im Wind verweht sind. Aber deren Werke sie überlebt haben. Auf ihnen, den Menschen und dem, was sie geschaffen haben, baut unsere Kultur auf. In ihr leben sie weiter.«
»Und in uns... Aber auf dem Turm haben Sie noch etwas anderes angedeutet.«
»Ja, dass vielleicht auch unsere Seelen weiterleben, in der einen oder anderen Form. Die reine Vernunft, wie sie die Revolution anbetet, kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein.«
»Und Fegefeuer, Hölle und Jüngstes Gericht vermutlich auch nicht.«
»Nein, das sind Schreckbilder für Kinder. Wirkungsvoll, aber nicht befriedigend für den denkenden Menschen.«
»Sie gehören den Freimaurern an, nicht wahr?«
»Entsetzt Sie das?«
»Das hat es einmal, jetzt scheint es mir passend.«
»Sie wissen selbst einiges darüber. Von Jules, oder? Gehört er eigentlich ebenfalls einer Bruderschaft an?«
»Ich kann es mir nicht vorstellen. Er ist zu sehr Einzelgänger, als dass er sich Regeln und Hierarchien unterwerfen würde.«
»Sie haben sich mit ihm getroffen?«
»Ja, vergangenen Donnerstag. Mit Graciella zusammen in ›Müllers Caffeehaus‹. Sie war begeistert, einen echten Schauspieler kennen zu lernen.«
»Und sonst?«
»Was – und sonst?«
»Haben Sie es vorhin ernst gemeint, als Sie drohten, das Haus zu verlassen?«
»Monsieur, was nützt eine Drohung, wenn sie nicht ernst gemeint ist?«
»Er hat Ihnen ein Heim angeboten?«
»Geheizte Räume und ausreichend zu essen, ja.«
»Und ein warmes Bett.«
»Nicht ausdrücklich, aber...«
»Er hat eine blendende Zukunft vor sich, erzählt man sich. Werden Sie zu ihm zurückgehen?«
»Ich weiß, wie das Leben mit ihm verläuft. Es ist unruhig und unberechenbar. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das heute noch ertrage.«
»Liebe lässt vieles ertragen.«
»Notwendigkeit noch mehr.«
»Ist es notwendig, Anna?«
»Allerdings. Bald wird Graciella zu alt sein, um noch eine Lehrerin zu brauchen.«
»Sie werden also einen Ehemann brauchen, Marie-Anna.«
»Vielleicht«, murmelte sie.
»Könnten Sie sich die Heirat mit einem achtbaren Mann vorstellen?«
Marie-Anna sah ihm ins Gesicht, mit offenen Augen und einem leichten Lächeln.
»Ja, Monsieur.«
»Sie sind von Ihrem Vater getrennt und haben keinen Vormund. Ich könnte mich für Sie verwenden, wenn Sie möchten.«
Ein leises Glucksen musste Marie-Anna mit der Hand vor dem Mund ersticken. Dann fragte sie mit Fassung: »Sie wollen mich an einen Fremden verheiraten?«
»Nicht gerade einen Fremden, Marie-Anna. Ich hatte den Eindruck, Sie stünden mit Romain Faucon in einem recht guten Einvernehmen. Er macht Ihnen kostbare Geschenke, wie es scheint.«
Bebend vor Heiterkeit sank Marie-Anna in den Sessel zurück.
»Was gibt es da zu lachen?«
»Oh, Valerian, wie blind können Männer nur sein! Haben Sie denn noch immer nicht gemerkt, wem Faucons Neigung gilt?«
»Faucons Neigung?«
»Ihre Nichte erblüht unter seinen Blicken und Worten wie ein ganzer Rosenbusch im Sommer.«
»Oh.«
»Ja – oh!«
»Es scheint wahrhaftig, dass ich ein wenig kurzsichtig war. Ich dachte, Markus Bretton...«
»Markus? Nie. Der jagt anderer Beute nach.«
»Unter anderem Ihnen.«
Sie zuckte die Schultern. »Ja, auch bei ihm würde ich kurzzeitig
Weitere Kostenlose Bücher