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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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missbilligt und die Bitte um Aufstockung des kleinen Taschengelds abgelehnt. Zumindest kümmerte er sich als Vater eingehend um die Ausbildung seiner Tochter – etwas, das die Mutter eher lässig anging.
    Valerian Raabe schien Marie-Anna noch immer rätselhaft, und besonders verblüfft hatte der Kommerzialrat sie am heutigen Tag, als er auf eine geradezu leichtherzige und belustigte Weise mit dem Sous-Préfet über sie und mit ihr geplaudert hatte.
    Und nicht zuletzt fragte Marie-Anna sich, was es mit seiner heiseren und tonlosen Stimme auf sich hatte.
     
    Am Dienstag nach Ostern war wieder Normalität eingetreten, wenn auch in modifizierter Form. Es war jetzt Rosemarie, die die Aufgabe übertragen bekommen hatte, den Kindern Geografie und Geschichte beizubringen
und die Schreib- und Rechenübungen zu überwachen. Die Naturkunde, hatte Valerian Raabe angeordnet, wollte er selbst in den Sommerferien übernehmen, wenn sie gemeinsam auf das Gut seiner Eltern fuhren. Rosemarie war ein wenig verunsichert gewesen, aber erstaunlicherweise verhielten sich ihre drei Schüler geradezu mustergültig.
    »Ich weiß, Papa ist ein wirklich großer Gelehrter«, bemerkte sie zu Marie-Anna, als sie nachmittags bei ihren Zeichnungen saßen. »Aber er vermittelt sein Wissen unsagbar trocken. Außerdem hält er es für unter seiner Würde, Kinder zu unterrichten. Ich glaube, im Grunde ist er ganz froh, dass ich ihm diese Bürde abnehmen soll. Auch wenn er ein missmutiges Gesicht gezogen hat.«
    »Kann er – pardon, Rosemarie – überhaupt ein anderes ziehen?«
    »Schon lange nicht mehr. Es hat ihn tief getroffen, als die Franzosen die Universität aufgelöst haben.«
    »Er hätte in eine andere Stadt, an eine andere Universität gehen können.«
    »Ich weiß nicht. Ich glaube, er hasst Veränderungen.«
    »Nun ja, seine Arbeit hier ist ja auch sehr nützlich. Ich finde es sogar recht interessant, diese Sachen zu katalogisieren. Man lernt eine Menge dabei. Übrigens – du bist doch in Latein bewandert. Kannst du mir übersetzen, was das heißt?«
    Marie-Anna reichte Rosemarie einen Zettel über den Tisch.
    »Mors Porta Vitae – der Tod ist die Pforte des Lebens. Woher hast du das denn?«
    »Das steht in dem Ring, den ich besitze.«
    »Woher stammt er?«
    »Ich weiß es nicht, ein Freund hat ihn mir geschenkt.«
    »Ein Freund?«

    »Rosemarie, wirst du auf deine alten Tage noch neugierig?«
    Rosemaries blasses Gesicht rötete sich etwas.
    »Psst, ich wollte dich nur foppen.«
    Es klopfte an der Tür, und Valerian Raabe trat von der Bibliothek her ein.
    »Meine Damen«, unterbrach er sie freundlich. »Dürfte ich Sie bitten, uns Ihren Sachverstand zur Verfügung zu stellen?«
    »Aber gerne, Onkel. Was können wir für Sie tun?«
    »Ich habe einen Herren empfangen, der mir ein interessantes Angebot gemacht hat. Bitte geben Sie Ihre Meinung dazu ab.«
    Marie-Anna und Rosemarie folgten ihm in die Bibliothek, einen Raum, der in helles Licht von den beiden großen Fenstern getaucht war. Die vier Ecken füllten weiße kannelierte Säulen, dazwischen befanden sich deckenhohe Regale, die eine wohl geordnete Fülle von Büchern enthielten. Ursula Raabe stand am Fenster und begutachtete etwas in ihrer Hand. In einem Fauteuil saß der Besucher in lässiger Haltung. Er trug einen ausnehmend modischen Frack mit hoher Taille, eine auffällig gemusterte Weste und helle Pantalons. Bemerkenswert war sein gut frisiertes, volles Haar, dessen blonde Locken im Sonnenlicht schimmerten. Ein Schnauzbart verdeckte seine Oberlippe, aber man sah das strahlende Lächeln, mit dem er die beiden jungen Frauen begrüßte. Eilfertig erhob er sich von seinem Sitz.
    »Darf ich Ihnen Herrn Markus Bretton vorstellen? Meine Nichte, Fräulein Klein, und Mademoiselle de Kerjean.«
    Markus Bretton verbeugte sich mit mustergültiger Eleganz, aber sein Blick blieb mit großer Intensität an Marie-Anna hängen. Sie schüttelte beinahe unmerklich den Kopf, und er wandte sich Rosemarie zu.

    »Dem Urteil dieser beiden reizenden Damen beuge ich mich selbstverständlich. Welche wird das Geschmeide tragen dürfen?«
    »Weder die eine noch die andere, Herr Bretton«, rügte ihn die Dame des Hauses scharf. »Sie gelten lediglich als fachkundig. Beide erstellen den Katalog der Sammlung meines Gemahls.«
    Valerian Raabe erklärte zu den beiden jungen Frauen gewandt: »Hier ist ein außerordentliches Schmuckstück, das man mir zum Kauf anbietet. Geben Sie bitte Ihre Meinung dazu

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