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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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machte sie mich verbal derartig nieder, wie ich es noch nie erlebt hatte. Doch seltsamerweise prallte ihre Gehässigkeit an mir ab. Es war etwas geschehen, das mir Schutz gab, das mich nicht mehr verletzlich machte. Sie war nicht mehr meine Mutter, die das Recht hatte, mein Verhalten zu kritisieren, die mit Verboten und Strafen mein Leben reglementieren konnte oder deren Liebesentzug mir Schmerzen bereitete. Sie war eine Fremde für mich geworden, die auf der Klaviatur der Emotionen spielte, ohne wirklich echte, tiefe Gefühle zu kennen.
    »Bist du jetzt fertig?«, fragte ich, als ihr Lamento sich dem Ende näherte.
    Auch sie war plötzlich beherrscht und kühl.
    »Du hast noch einen Haustürschlüssel für dieses Haus. Gib ihn mir. Und dann lass dich hier nie wieder blicken!«

    Ich nahm den Schlüssel aus der Tasche und legte ihn vor mich auf den Tisch.
    »Wie du wünschst, Mutter.«
    Ich stand auf und ging ohne Gruß. Die zukünftige Verständigung würde über Dr. Schneider, den Notar, laufen. Der Ärmste, er würde einiges abbekommen.
     
    Ich fuhr konzentriert und vorsichtig zurück, aber auf halber Strecke musste ich dann doch anhalten. Ich fuhr auf einen kleinen Parkplatz, eine Sammelstelle für Jogger und Inlineskater, die sich auf den Waldwegen austoben wollten. Bis zu diesem Moment hatten meine Nerven bewundernswert mitgespielt, jetzt versagten sie. Ich legte den Kopf auf das Lenkrad und wartete, dass das Zittern aufhören würde.
    Irgendwann vernahm ich wieder das Zwitschern der Vögel und sah das helle Grün der eben aufbrechenden Blattknospen. Ein Kuckuck rief ganz in der Nähe seinen Namen, und ein Windstoß trieb eine Wolke weißer Blütenblätter über die Scheiben meines Autos. Ich stieg aus und atmete die süße Frühlingsluft ein. Die dunkle Wolke, die mich umgeben hatte, löste sich allmählich auf. Eine halbe Stunde lang ging ich durch den lichten Wald, freute mich an den weißen Buschwindröschen, die sich unter den kaum belaubten Bäumen ausbreiteten, und den blauen Veilchen am Wegesrand. Ich wollte nur in der Gegenwart, ganz im jetzigen Augenblick sein und sowohl Vergangenheit als auch Zukunft vergessen. Beides schien zu übermächtig geworden zu sein in der letzten Zeit.
    Es half. Mein inneres Gleichgewicht war einigermaßen wiederhergestellt, als ich zum Parkplatz zurückkam. Ich setzte mich ins Auto und stellte den Motor an. Aus dem Radio klang eine süße, einschmeichelnde Melodie, und ich nahm sofort die Hand von der Gangschaltung.
Eine Frauenstimme, ein rauchiger Alt, sang das »Lied«.
    Fassungslos hörte ich zu. Es war eine wunderbar gefühlvolle Interpretation, und erneut war es ein tiefer Trost, der daraus klang und mich umgab.
    Danach kam es. Ein Interview mit der Sängerin, die sich Denise nannte. Eigentlich, erklärte sie, sei sie Konzertsängerin, klassisch. Gelegentlich mal Chansons. Aufnahmen gab es auch von ihr, doch nur mit anderen Interpreten zusammen. Dieses war ihr erstes und einziges Solostück. In Memoriam. Einem Musiker gewidmet, den sie sehr verehrt habe, Julian Kaiser. Von ihm komponiert und arrangiert.
    Anschließend brachten sie die Nachrichten.
    Ich fuhr nach Hause und nahm die Briefe aus der Mappe, die mir Rose wieder mitgegeben hatte.
    »Die eine namenlose, immerwährende Sehnsucht erträgt.«
    Natürlich, D-e-n-i-s-e.
    Welche Denise?
    Da gab es verschiedene Möglichkeiten. Den Sender anrufen, das Internet befragen, in ein Musikgeschäft gehen, Julians Agenten anrufen.
    Letzteres schien mir das Einfachste. Doch bevor ich die Nummer herausgesucht hatte, klingelte das Telefon.
    »Hallo, Ana? Anahita Kaiser?«
    »Ja, die bin ich nun mal.«
    »Ich bin’s, Jan. Leg nicht gleich wieder auf, Ana. Bitte.«
    »Aber nein, warum sollte ich? Wie geht’s dir, Jan?«
    »Ich lebe. So irgendwie. Ich hab’ gehört, du bist durch mich in Schwierigkeiten gekommen.«
    »Aber nein, Jan. Haben sie dich auch vernommen?«
    »Ja, und die ganzen alten Kamellen wieder aufgewärmt. Jennifers Tod und so. Ich hab’ die letzten Tage
viel an dich gedacht. Bei dir ist auch einiges passiert, nicht?«
    »Ja, das ist es wohl.«
    »Du hast eine neue Adresse, nicht? Hab’ deine Telefonnummer ziemlich suchen müssen.«
    »Na, du hast sie ja gefunden. Und was machst du jetzt? Bist du mit dem Studium fertig?«
    »Nee. Abgebrochen. Es ging nicht mehr, weißt du. Ich… ich hab jetzt mit ein paar Freunden einen Entrümplungsdienst. Sag mal, wär das sehr blöd, oder könnten wir uns mal wieder

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