Der Lilienring
scheint mir.«
»Ja, Madame kam gerade zornschnaubend über den Gang gerauscht. Puh, das wird ein gemütliches Abendessen heute.«
»Mir tut Onkel Valerian manchmal Leid. Steckst du mir den Zopf auf? Ich habe es schon zweimal versucht, aber er sitzt immer schief.«
Marie-Anna übernahm die kleine Handreichung, und danach gingen sie gemeinsam nach unten ins Esszimmer.
Valerian Raabe stand am Kamin, aufrecht und augenscheinlich sehr beherrscht.
»Wir haben einen schönen Nachmittag verbracht, Onkel Valerian. Sie hätten mitkommen sollen. Es war wundervoll am Rhein unten.«
»Ich hatte zu tun.«
»Am heiligen Sonntag, Monsieur Raabe?«, erlaubte sich Marie-Anna leise zu spötteln.
»Halten Sie sich mit Ihren Vertraulichkeiten zurück, Mademoiselle!«, fuhr er sie so scharf an, dass sie förmlich zurückzuckte. Rosemarie schnappte nach Luft und wollte etwas dagegenhalten, aber Marie-Anna ergriff ihren Arm.
»Pardon, Herr Kommerzialrat. Es wird nicht mehr vorkommen.«
Gegenwart
15. Kapitel
Denise
»In den folgenden Monaten, so sagt dieses Tagebuch noch, hat sich Valerian Raabe weitgehend von den gemeinsamen Familienaktivitäten zurückgezogen, Marie-Anna so gut wie nicht mehr beachtet und nur noch das Allernotwendigste mit ihr gesprochen«, sagte ich.
»Ob sich die Geschichte eigentlich immer wiederholt?«, fragte Rose. »Männer sind solche Idioten!«
»Manchmal haben sie ihre Gründe.«
»Klar, dein Valerius hüllt sich in Schweigen, weil du eine Verbrecherin bist. Aber was hinderte Valerian daran, Marie-Anna freundlich zu begegnen? Diese Ursula ist nun weiß Gott nicht der liebenswerteste Charakter, will mir scheinen.«
»Wir vergessen, dass die Sitten ein wenig anders waren als heute. Ich denke mal, das Arrangement, das die beiden Raabes getroffen haben, war schon recht freizügig nach innen hin. Aber mehr Freiheit, als gelegentlich eine Geliebte außer Haus zu besuchen, konnte Madame ihm wohl nicht gestatten. Das erachtete man sozusagen als medizinisch notwendig. Aber Marie-Anna wurde zu einer anderen Art von Bedrohung. Was, wenn er sich wegen ihr scheiden ließ?«
»Ja, ging das denn überhaupt?«, fragte Cilly.
»Der von Napoleon eingeführte Code Civil war recht großzügig in Scheidungsfragen. Natürlich nur zu Gunsten der Männer. Die Frauen waren damals wirklich die Gekniffenen. Gesellschaftlich völlig unten durch und meist finanziell nicht abgesichert.«
»Der edle Valerian wollte das seinem angetrauten Weib natürlich nicht zumuten und behandelt prompt und auf Befehl Marie-Anna wie Luft. Ich sag doch, Männer sind Idioten.«
»Wir wissen nicht, was Madame noch so alles gegen ihn in der Hand hat, nicht wahr?«
»Wann werden wir es wissen?«
»Vermutlich wenn ich das nächste Tagebuch durchgelesen habe.«
»Also morgen?«
»Liebelein!«
»Jetzt fängst du auch noch damit an!«
Rose und Cilly kicherten, und ich bemühte mich, ein strenges Gesicht zu machen.
»Tut mir Leid, aber ich kann nicht alles auf einmal machen. Aber wenn ihr euch mit Wörterbuch und Lexikon herumschlagen wollt, habe ich nichts dagegen. Ich muss etwas ungemein Wichtiges erledigen.«
»Ich glaube, das kriegen wir hin. Was ist denn so Dramatisches geschehen?«
Ich seufzte tief.
»Anita, was ist passiert?«
»Vieles. Ich habe mich jetzt drei Tage mit der Vergangenheit betäubt. Aber die Gegenwart lässt sich nicht ausschließen. Also, ich weiß, wer die Briefe geschrieben hat.«
Rose fuhr von ihrem Platz auf.
»Wer, Anita?«
»Eine Sängerin namens Denise.« Ich berichtete von dem »Lied« und dem Anruf bei Julians Agenten. »Ich werde bald anrufen müssen und fragen, ob wir uns treffen können.«
»Meinst du, Julian ist zu ihr gefahren, nachdem er von mir fort ist?«
»Ich bin mir fast sicher.«
»Meine Güte, warum meldet sie sich nicht bei der Polizei?«
»Aus demselben Grund, Rose, weshalb du es auch nicht getan hast. Sie wollte ihn nicht bloßstellen, denke ich.«
»Aber uns in Verdacht bringen!«
»Deshalb will ich sie ja sprechen. Sie soll ihre Aussage machen, wenn er denn tatsächlich bei ihr war. Ihm tut es nicht mehr weh, uns kann es nur helfen. Und wenn meine Mutter deswegen ihren Koller kriegt, ist mir das inzwischen auch weidlich egal.«
»Endlich. Wurde langsam Zeit, dass du mit der Rücksichtnahme aufhörst.«
Ich ließ mich gegen das Polster des Sofas fallen. Das Schwerste stand mir noch bevor. Seit meinem Gespräch mit Jan war mir immer klarer geworden, dass ich mich mit meinem
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