Der Lilienring
Verdacht ernsthaft auseinander setzen musste.
Rose und Cilly saßen mir gegenüber still nebeneinander, waren dicht zusammengerückt und sahen mich an.
»Was ist los, ihr zwei?«
»Anita …?«
»Rose, was ist?«
»Wir haben... also, Cilly und ich haben...«
»Schwester, lass mich. Anita kann das ab, glaub mir.« Cilly kam zu mir auf das Sofa und kuschelte sich neben mich. »Anita, ist dir eigentlich schon mal der Verdacht gekommen, deine Mutter könnte selbst etwas mit dem Unfall zu tun haben?«
»Seit Wochen schon, Cilly. Und das ist, ehrlich gesagt, nicht sehr angenehm. Sie hatte die Möglichkeit, und an Motiven fehlt es ihr nicht, selbst wenn es nur krankhafte Eifersucht war. Aber es ist für mich schwer, damit fertig zu werden, sie könne ihn vorsätzlich kaltblütig umgebracht haben.«
»Darum also schweigst du.« Rose kniete inzwischen vor mir am Boden und streichelte meinen Arm.
»Richtig, darum schweige ich. Und hoffe, Kommissarin Frederika findet selbst etwas heraus. Vielleicht hilft ihr Denise.«
»Dann ruf sie so bald wie möglich an, Anita. Wenn’s geht, schon heute. Es ist Freitagabend, kein schlechter Termin, oder?«
»Ja, wahrscheinlich ist es kein schlechter Termin. Lasst ihr mich bitte alleine?«
Sie waren beide gegangen, und ich nahm das Telefon zur Hand. Sehr langsam tippte ich die Nummer ein. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals.
Eine wundervolle, tiefe Frauenstimme meldete sich. Denise, unverkennbar.
»Mein Name ist Anahita Kaiser, ich...«
»Anahita! Anahita, wie gut, dass Sie anrufen. Sie sind doch Julians Tochter, nicht wahr?«
»Ja, ja natürlich.«
»Es ist entsetzlich von mir, ich wollte mich immer bei Ihnen melden, aber ich habe nie den Mut gefunden.«
»Und ich habe erst vor ganz kurzer Zeit von Ihnen überhaupt erfahren.«
»Wir müssen miteinander reden, Anahita. Nicht am Telefon. Wo wohnen Sie?«
Ich gab ihr meine Adresse.
»Das ist ja gar nicht weit. Wann haben Sie Zeit?«
»Morgen?«
»Ich komme zu Ihnen, wenn es Ihnen recht ist.«
»Ich kann auch zu Ihnen kommen.«
»Nein, es gibt einen Grund... Sagen wir, am frühen Nachmittag?«
»Gegen zwei?«
»Wunderbar. Bis dann, Anahita. Und vielen Dank!«
Es war also um vieles leichter gewesen, als ich gedacht hatte. Andererseits, gestand ich mir ein, Julian hatte Denise wohl geliebt, und eine Frau, die über so viele Jahre seine Vertraute war, musste wohl auch etwas Verständnis für seine Tochter haben, nach der sie sich stets so ausführlich erkundigt hatte.
Sie kam pünktlich, einen riesigen Strauß duftenden wei ßen Flieders in der Hand.
»Aus meinem Garten!«, erklärte sie, legte ihn auf die Garderobe und streckte die Arme aus. Sie war eine schöne Frau, ihr Lächeln so warm und herzlich, dass ich meine Zurückhaltung aufgab und ihre Umarmung erwiderte.
Dann fehlten uns beide die Worte, und wir betrachteten uns gegenseitig schweigend. Sie war mittelgroß und gut proportioniert, aber nicht übermäßig schlank. Ihre Haare hatten einen Aufsehen erregenden Rotton, sie mochte ihn nicht ausschließlich der Natur zu verdanken haben, aber er stand ihr ausgezeichnet. Ihr Gesicht war ebenmäßig, dezent geschminkt und überaus lebendig im Ausdruck. Auf der Bühne würde sie bezwingend wirken.
»Du bist ihm ähnlich, Anahita. Sehr ähnlich. Auch wenn du ganz anders aussiehst. Es ist deine Ausstrahlung, die seiner gleicht.«
»Danke. Möchten Sie nicht hereinkommen?«
»Lass die Förmlichkeiten. Ich bin Denise.«
»Gut. Hier bitte.«
Wir setzten uns an den Tisch, auf den ich die Briefe und die Kassette gelegt hatte. Auch die Tagebücher lagen hier.
»Wie bist du auf mich gestoßen?«
»Zwei Spuren, Denise. Es war nicht ganz leicht, denn Julian hat einen Hang zur Geheimniskrämerei gehabt, das weißt du ja. Alles fing mit seinem Tod an...«
Ich erzählte ihr, wie ich meine Schwester gefunden hatte, den Siegelring und die dazugehörige Geschichte, das Stundenbuch und auch dessen Geschichte und zu guter Letzt die Tagebücher und über die Tagebücher die Briefe.
»Kurz darauf hörte ich dich das ›Lied‹ singen.«
»Es ist wundervoll, nicht wahr? Julian war Künstler, ein Sänger und ein Barde, Anahita. Ein Barde war er im besten und wahrsten Sinne des Wortes. Das beweisen zudem seine Geschichten. Ich kenne Teile davon und weiß, dass er sie euch erzählt hat. Er hat Muster im Gewebe des Lebens erkannt, die andere nicht sehen können. Er hat die Fäden darin verfolgt und Parallelen entdeckt.
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