Der Linkshänder – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Alex-McKnight-Serie (German Edition)
inzwischen fast hundertdreißig. Zwei Fahrspuren, die am Rand der Welt entlangführten, Wasser auf der einen, verschwommen vorbeihuschende Kiefern auf der anderen Seite.
»Als ich achtzehn war, kam die ganze Familie den Sommer über hier an den See. Das Wasser war immer wahnsinnig kalt, sogar Mitte Juli, aber nachts wirkte es nicht ganz so kalt. Es wirkte wärmer als die Luft. Deshalb habe ich mich manchmal nachts, wenn alle im Bett waren, an den Strand geschlichen, nur mit meinem Bademantel. Wenn ich mir ein Herz gefaßt hatte und sicher war, daß niemand da war, habe ich den Bademantel abgeworfen und bin ins Wasser gesprungen.«
Ich konzentrierte mich aufs Fahren.
»Eines Nachts war ich eine Zeitlang geschwommen und bin wieder an Land gegangen und zu der Stelle gelaufen, wo ich meinen Bademantel hingelegt hatte. Aber er war nicht mehr da.«
Eine lange Pause folgte.
»Maria?«
Nichts.
Ich sah zum Handy. Das Signal war weg.
»O nein, du blödes Stück Scheiße.« Ich nahm es in die Hand und schüttelte es, als ob ich es damit ernsthaft wieder zum Funktionieren brächte. »Nun mach schon, tu mir das nicht an.«
Ich versuchte ihre Nummer zu wählen, aber es sendete nicht. Das doofe kleine Display sagte immer nur dasselbe: Betriebsbereit.
»Betrieb kannst du haben«, sagte ich. Ich wollte es schon am Armaturenbrett in Stücke hauen, bezwang mich dann aber selber und warf es auf den Beifahrersitz.
Ich konzentrierte mich auf das Lenken des Lastwagens, darauf, schnellstmöglich zu ihr zu gelangen. Ich sah das Schild, das mich in Orcus Beach willkommen hieß, fuhr an Rocky’s Kneipe vorbei, bog an der Ecke links ab, raste die Straße hinunter, über die Brücke, bis zu Marias Straße.
Ich bog nicht ein. Ich parkte den Laster an der Bootslände und stieg aus. Die plötzliche Stille ging mir auf die Nerven. Nur das schlappe Geräusch der Wellen, die sanft ans Ufer schlugen, und das nachbebende Dröhnen der Straße in meinem ganzen Körper.
Okay, Alex. Jetzt mußt du gerissen sein. Wenn du die Straße runtergehst, sieht er dich unweigerlich. Es ist eine Sackgasse, also gibt es keine Möglichkeit, von hinten an ihn ranzukommen. Es sei denn …
Das Ufer.
Von der Bootslände aus ging ich weiter auf den Sand und die Felsen. Es war ein mühsamer Marsch, vor allem in der Dunkelheit. Das einzige Licht kam vom halbvollen Mond, der sich hinter Wolken verbarg und, noch schwächer, von den Häusern entlang des Ufers.
Ich kämpfte mich nach Norden vor, hinter der Häuserreihe entlang. Ich wußte, das von Maria war fast ganz am Ende. Das vorletzte, wenn ich das richtig in Erinnerung hatte. Ich mußte mithin den ganzen Weg zurücklegen, fast einen Kilometer.
Ich dachte an Maria am Strand. In ihrem Bademantel.
Ich stolperte über etwas und schlug hart hin. Ich rappelte mich wieder auf und marschierte weiter.
Ich erreichte Marias Haus. Das Haus vom Chief. Wenn der mich jetzt sehen könnte, wie ich mich von hinten ans Haus heranschlich. Mir fiel der Zaun ein, der das ganze Grundstück zur Straßenseite hin umgab. Ich mußte sogar noch ein Stück weiter am Ufer entlang, um sicherzugehen, daß er mich nicht bemerkte, wie ich über das verdammte Ding kletterte. Also ging ich an ihrem Grundstück vorbei bis zum letzten Haus in der Reihe. Ein stabiler Maschendrahtzaun umgab das Grundstück auf drei Seiten; er endete einen Meter vorm Wasser.
Ich griff in die Maschen und holte tief Luft. Was für ein paranoider Arsch zieht um sein gesamtes Gelände solch einen Zaun und läßt es dann zum See hin offen? Offensichtlich zog er eine Invasion vom Wasser aus nicht in Betracht. Das Haus war völlig dunkel. Entweder war niemand zu Hause, oder alle waren früh zu Bett gegangen.
Mir fiel das Ende der Straße wieder ein und der niedrigere Zaun hinter der Planke. Wenn ich um das ganze Grundstück herumginge …
Ich überquerte das dem Mann gehörende Uferstück und wartete auf die Bewegungsmelder, die die Scheinwerfer in Gang setzen würden, und dann auf die heranhetzenden Wachhunde. Nichts geschah. Als ich die andere Seite erreichte, sah ich einen schmalen Streifen Land, der am Zaun entlanglief. Er fiel steil zu der Bucht hin ab, die ich von der Straße aus gesehen hatte.
Ein kleiner Balanceakt war angesagt. Ich hielt mich am Zaun fest, während ich mich mühsam auf dem schmalen Streifen nach oben arbeitete. An einigen Stellen hatte die Erosion das ganze Erdreich unter dem Zaun fortgespült. Über diese Stellen mußte ich
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