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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Dichterin, und wir können uns in Dolina Ró ż damit rühmen, dass sie unter uns lebt − die allergrößte Dichterin, die es in unserem Landkreis Lunatal jemals gegeben hat. Sie schreibt nicht, sie dichtet«, las Bartek mit zitternder Stimme, aber deshalb, weil ihm die Hosenbeine zitterten und weil ihm seine Knie immer noch wacklig und zittrig waren. »Sie dichtet, unsere Frau Natalia Kwiatkowska, und so wie sie dichtet, kann niemand dichten, denn sie dichtet für uns und für unser Heimatstädtchen, das sie in einem Gedicht den ›Fingerhut der Milchstraße‹ nennt. Und sie dichtet über den 1 . Mai und die roten Fahnen, die auch ich schon so viele Male am Tag der Arbeit durch die Straßen von Dolina Ró ż getragen habe – ich, der Schüler des 1 . Mai und des Fronleichnams, habe den Himmel über unserem Lunatal rot bemalt und auf meinen Schultern getragen, schon so viele Male. Und da Frau Kwiatkowska über mich dichtet, ist sie nicht nur eine Dichterin, sondern auch eine Beschützerin derjenigen, die unterdrückt und vom Schicksal hart geprüft werden …«
    »Setzen, Bartek, setzen!«, schrie die Polnischlehrerin plötzlich. »Das ›Ich‹ hat in einem Aufsatz nichts zu suchen! Setzen, setzen! Eine Sechs! Eine Sechs ist das! Dein Geschreibsel!«
    Aber Bartek konnte sich nicht mehr setzen, denn er las seinen Aufsatz über die Heimatbilder in den Gedichten der Stalinistin, seiner Nachbarin, der ehemaligen Geliebten des Franzosen: »Sie ist die neue Lilja Brik, die vor zirka dreißig Jahren zu uns nach Dolina Ró ż kam, um uns die Augen zu öffnen. Denn wir sehen nicht, fühlen nicht, denken nicht − will uns die neue Lilja Brik sagen. Dabei sei unser Defilierplatz ›der Himmel auf Erden‹, wie Frau Kwiatkowska dichtet, er sei ›das wachsame und fürsorgliche Auge der Mutter namens Sozialismus‹, und das mittelalterliche Tor der Kreuzritter, über das es eine Handvoll Gedichte in den dünnen Lyrikheften von Frau Kwiatkowska gibt, sei ›von uns Sichel- und Sternenmenschen mit fünf Armen besiegt und gezähmt worden wie ein wildes Tier‹. Über das neue Krankenhaus dichtet sie auch, unsere verehrte Beschützerin und Mutter der Dichtung, das neue Krankenhaus, an dem seit Jahren gebaut wird, werde den Bewohnern unseres Städtchens als ›eine Fähre der Hoffnung an der Luna‹ dienen, damit ›der Kranke im Fluss der Geschichte nicht mehr untergehe‹. Und selbst Herr Lupicki findet in diesen Gedichten eine Würdigung: Der alte Schuster sei ›so fleißig wie Hephaistos‹, und in seiner Schusterwerkstatt brenne ›das Feuer der Gerechtigkeit und der Kunst‹, denn Schuhe zu reparieren, sei ›eine große und mühselige Kunst in der Einsamkeit‹, da ›der einzige Freund des Schusters der Dreifuß‹ sei. Ich kann auch endlich sehen und denken und fühlen, wenn sich diese Gedichte vor mir ausbreiten wie der Stadtplan von Dolina Ró ż …«
    »Setzen, Bartek, setzen!«, schrie »Frau Aquarell und Kolibri« wieder. »Das ›Ich‹ hat in einem Aufsatz nichts zu suchen, absolut gar nichts! Ich werde deinen Aufsatz, diese Schmähschrift, in unserer Wandzeitung vorstellen − hinterm Vitrinenglas wird dein Geschreibsel als abschreckendes Beispiel, wie man über Gedichte nicht schreiben darf, ja, wie man überhaupt nicht schreiben darf, den Schülern gute Dienste leisten! Sechs, Bartek, Sechs! Pfui! Was für ein Geschreibsel!«
    »Aber Frau Professor, Frau Professor! Ich habe noch eine ganze Seite, die ich vorlesen muss: die Fontäne am Marktplatz, die ›den Liebespaaren Glücksmünzen spende‹, und der orangefarbene Wohnblock, in dem ich und Frau Kwiatkowska wohnen, sei ›das Zentralkomitee des Neuen Menschen‹, dichtet sie – mein Gott, wie sie dichtet! Frau Professor! In dieser Dichtung geht es um den ›Neuen Menschen‹ – und nicht um Heimatbilder!«
    »Setzen, Bartek, setzen … Eine Sechs! Auch eine Sechs für den ›Neuen Menschen‹!«
    Das leise Kichern und Räuspern und Husten der Mitschüler war für niemanden zu überhören.
    Das Schusterkind setzte sich. Und als es endlich saß und nicht mehr aufstehen durfte, musste es an seine Mutter denken, die ihm eine gute Note für den Aufsatz prophezeit hatte. Bartek lockerte seine Krawatte, nein, er lockerte sie nicht, er riss sie sich vom Leibe, riss das weiße Hemd auf, sodass drei Knöpfe in die Luft flogen, und sagte: »Wollen Sie meine Brust sehen, Frau Professor? Wollen Sie? Meine junge Männerbrust? Sie werden auf ihr kein einziges Härchen

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