Der Lippenstift meiner Mutter
finden, kein einziges!«
»Raus, Bartek, raus!«, schrie ihn die Polnischlehrerin an. »Vor die Tür mit dir, vor die Tür … Deine Mutter wird sich schämen für dich! Schämen wird sie sich! Pfui!«
Während des laufenden Unterrichts vor der Klassenraumtür zu stehen, war eine undankbare Aufgabe für den verbannten Renegaten. Er fühlte sich wie ein zum Abschuss freigegebener Elefant. Vor der Klassenraumtür verschwand die Schule nicht, im Gegenteil, sie wurde noch größer, das ganze Zirkuszelt der Schola blies sich auf und wollte abheben, da hörte Bartek im Treppenhaus Schritte und betete zu Jesus, es mögen gute, ihm wohlgesinnte Schritte sein. Als er dann den Buckligen Norbert um die Ecke schießen sah, rief er laut seinen Namen und lief ihm nach. Norbert drehte sich um, blieb stehen und lachte sogleich: »Bartk, Bartk!«, sagte er und gab ihm einen Zettel – eine neue Nachricht. Herr Lupicki hatte Bartek folgende Zeilen geschrieben: »Monte Cassino ist heute Morgen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Es sieht nicht gut aus. Das Herz. Sein Herz, Bartek! Er will dich unbedingt sehen!«
Das Herz, dachte das Schusterkind, das Herz, und was ist mit meinem Herzen?
»Meryl, habe ich einen schönen Aufsatz geschrieben?«
Er musste seine Frage wiederholen, denn Meryl meldete sich nicht. Wo war sie? Warum konnte er sie nicht sehen und hören? Bartek wandte sich an den Buckligen Norbert: »Sag deinem Vater, dass ich mich gleich nach der Schule auf den Weg ins Krankenhaus machen werde! Hast du verstanden? Du verstehst doch jetzt alles, was man zu dir sagt, oder? Seit deiner Genesung auf dem Teufelsberg verstehst du uns besser, oder?«
»Jo, jo, jo!«, meinte der Sohn von Herrn Lupicki und verschwand.
»Mariola, Mariola!«
Bis zum Ende der zweiten Unterrichtsstunde versteckte sich Bartek auf der Toilette. Er versuchte noch einmal, mit Meryl Streep in Kontakt zu treten, aber ihre Stimme aus dem Kino Zryw war verstummt, und er fragte sich, ob er in letzter Zeit etwas Falsches und Beleidigendes zu seiner Geliebten gesagt haben könnte. Er strengte sich an, die Erinnerung an die allerletzten Gespräche mit Meryl zurückzuerobern, und je mehr er sich anstrengte, desto schwieriger war es für ihn, die weißen Flecken in seinem Gedächtnis mit Worten und Erinnerungsbruchstücken zu füllen. Vielleicht war sein Versteck nicht gerade der erlesenste Ort für eine Kontaktaufnahme mit seiner Geliebten, die doch ein Filmstar war und die im Kino Zryw wohnte und nicht auf der Toilette in einem ehemaligen Wehrmachtsgebäude. Bartek wusste, wie sehr ihn Meryl liebte, und das war das Einzige, was zählte und ihm etwas Trost spendete. Das Schusterkind sagte sich: »Du magst mich verlassen haben, für immer verlassen, aber ich bin mir sicher, dass wir uns schon bald wiedersehen werden, und dann wirst du endlich das Mädchen, auf das ich schon seit Jahren warte. Vielleicht wird dieses Mädchen genauso aussehen wie du, es spielt eigentlich keine Rolle, wie dieses Mädchen aussieht. Hauptsache ist, dass ich nicht mehr länger warten muss. Jesus Maria! Wann kommt sie endlich?! Wann kommt sie, meine Geliebte aus Fleisch und Blut?! Meine Liebe! Mein Sommerkleid aller Sommer! Und keine Schaufensterpuppe!«
Als die Pausenglocke läutete, und sie läutete auch in Barteks Kopf und seiner Brust, band er sich wieder die Krawatte um den Hals, machte sich am Waschbecken die Haare nass und kämmte sie mit gespreizten Fingern durch. Und so gekämmt und aufgerichtet, denn die Polnischlehrerin hatte ihn umgehauen, für eine Sekunde in der Mitte durchgebrochen wie ein Streichholz, ging er zurück in den Klassenraum, um seinen Rucksack mit den Schulbüchern und -heften zu holen. Und wie er ging! Mit halb entblößter Brust, im weißen Hemd, an dem drei Knöpfe fehlten. Er hatte beschlossen − nach dieser Niederlage seines Aufsatzes −, den Schulunterricht für den heutigen Tag zu beenden. Elefanten und Renegaten gingen eben ihre eigenen Wege, und außerdem »das Herz, sein Herz, Bartek«, wie ihm Herr Lupicki schrieb. Wenn Monte Cassino tatsächlich ins Johanniter-Krankenhaus eingeliefert worden war, musste man sich Sorgen machen. Große Sorgen. Bartek konnte diese Sorgen sehen, wie sie auf der Straße rollten wie riesige Kugeln aus Glas. Zerbrachen sie, verletzten sie die Füße und die Hände, weil manche Menschen auf den Händen gingen, wenn sie große Sorgen hatten.
Anton sagte: »Wie denn? Was denn? Du gehst?«
Ja, ich gehe, und wenn ich
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