Der lockende Ruf der grünen Insel: Roman (German Edition)
Arbeit machen müssen. Heute war sie an der Reihe, das Antiquitätengeschäft zu öffnen, das sie und Yvonne Hearne betrieben, die Frau, die ihre Pflegemutter, Freundin und auch Arbeitgeberin war.
Schnell räumte sie Seans Teegeschirr weg und stellte es in die Spüle zu ihrem. Er hatte seinen Tee nicht einmal angerührt. Wahrscheinlich hätte er lieber Kaffee getrunken. Das würde sie sich merken müssen.
Es war dieser Gedanke - vielleicht mehr als jeder andere -, der sie innehalten ließ. Sie würde es sich merken müssen, weil sie ihn wiedersehen würde. Weil sie mit ihm nach Irland fliegen würde. Um ihre Familie kennenzulernen ... eine Familie, an die sie keinerlei Erinnerung mehr hatte.
Wie kam es dann, dass sie sich an das Gefühl des Fliegens erinnerte, das sie als Kind erfahren hatte, wenn die Luft umschlug und sich eine Vision einstellte, sie sich aber - egal, wie sehr sie sich auch bemühte - weder an ihre Eltern noch an ihren Bruder oder ihr Leben vor Arizona erinnern konnte? Sie hatte zu Anfang nicht einmal ihre eigene Mutter erkannt, als sie sie heute Morgen in ihrer Vision gesehen hatte. Danni war fünf gewesen, als ihre Mum sie damals in den Kindergarten gebracht und nie wieder abgeholt hatte. Das müsste doch alt genug sein, um sich an irgendetwas aus ihrem Leben davor zu erinnern. Aber sie hatte keine Erinnerungen daran. Nicht einmal die Spur einer Erinnerung.
In den Jahren nach dem Verschwinden ihrer Mutter hatte Danni viel psychologische Beratung und intensive Therapien erhalten. In den ersten sechs Monaten, nachdem ihre Mum sie im Stich gelassen hatte, hatte Danni kein Wort mehr gesprochen. Die Psychologen und Berater schrieben es ihren traumatischen Lebensumständen zu, kamen zu dem Schluss, sie müsse missbraucht worden sein, bevor sie »ausgesetzt« worden war, und vermuteten, dass sie ein Opfer von sehr viel mehr als nur Zurückweisung gewesen war. Im Laufe der Jahre war Danni zu dem Schluss gekommen, dass sie wohl recht hatten. Was sonst würde eine Fünfjährige dazu veranlassen, ein halbes Jahr kein Wort zu äußern?
Sie hatte nie etwas darüber erfahren, woher sie kam und wer sie war, und diese leeren Seiten in ihrem Kopf waren schließlich zu ihrer Vergangenheit geworden. Sie hatte gelernt, damit zu leben. Aber der kurze Einblick, wer sie sein könnte, den Sean ihr gewährt hatte, hatte diese Illusion zerstört. Sie hatte eine Geschichte, ein Leben vor der Cactus Wren Preschool.
Sie würde bestimmt nicht unberücksichtigt lassen, was sie in der Vision gesehen hatte - den Schrecken in der Höhle oder die Leichen in dem Grab -, doch sie würde auch nicht ihre Entscheidungen darauf gründen, weil sie noch gar nicht wusste, was das alles zu bedeuten hatte. Der Tod war schließlich etwas Metaphorisches, nicht wahr? Der Vorläufer der Wiedergeburt in jeder Fabel, die sie je gelesen hatte. Und außerdem stimmte es, was Sean gesagt hatte. Ihre Familie zu finden, zu erfahren, wer sie war - das war es, was sie sich ihr Leben lang gewünscht hatte. Nichts anderes war wirklich wichtig.
Danni erreichte Older than Dirt Antiques ein paar Minuten später als gewöhnlich und war froh, dass noch kein Kunde draußen wartete. Schnell schloss sie die Türen auf, schaltete die Alarmanlage ab und öffnete die Jalousien. Helles Sonnenlicht fiel durch die mit UV-Schutz versehenen Fenster herein. Es war die »Saison der blauen Haare« - die Jahreszeit, in der Unmengen von Greisen vor dem Winter nach Süden in die milderen Klimazonen flohen - und die beste Zeit für das Antiquitätengeschäft. Die Verkäufe in den nächsten Monaten würden sie und Yvonne über den langen, heißen Sommer bringen, in dem ihre einzigen Kunden Einheimische waren, denen die infernalisch hohen Temperaturen nichts ausmachten.
Yvonne würde heute später kommen, und Danni freute sich ebenso darauf, ihr alles zu erzählen, wie sie sich davor fürchtete. Mit sechzehn war Danni als Pflegekind zu Yvonne gegeben worden. Nach elf Jahren in staatlicher Obhut, elf Jahre, in denen sie von einer Pflegefamilie zur anderen abgeschoben worden war, kam Danni natürlich auch zu Yvonne mit der Erwartung, dass sie bald wieder fortgeschickt werden würde. Denn mit ihr stimmte etwas nicht, irgendetwas, das es ihr unmöglich machte, sich je irgendwo einzugliedern. Zumindest hatte sie angefangen, das zu glauben, als eine Familie nach der anderen sie wieder der staatlichen Obhut übergeben hatte. Für Danni bestand daher kein Grund anzunehmen, dass
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