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Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Morgan Jones
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beschämt.
    »Unwichtig.«
    »Ist es Inessas Artikel?«
    Webster nickte. »Es fällt schwer, das zu ignorieren.«
    Hammer wartete, bis Webster aufschaute. »Sie denken nicht gradlinig. Sie werden nie erfahren, wer sie getötet hat, es sei denn, jemand verrät es Ihnen. War es Malin? Er ist ein Kandidat, natürlich. Trotzdem, es liegt zu lange zurück. Sie werden es niemals erfahren. Aber bei diesem Fall – Sie hätten Gerstman sowieso aufgesucht. Zu unserem Job gehört
es, Malin zu stürzen, egal, was er vor zehn Jahren getan hat. Das ist wahrscheinlich die einzige Art von Gerechtigkeit, die Sie jemals bekommen werden.«
    Webster hielt seine Armbanduhr in der Hand und beobachtete, wie der Sekundenzeiger eine Umdrehung absolvierte, bevor er sie wieder über die Hand streifte, den Verschluss zusammendrückte und sich in seinem Sessel zurücklehnte. Hammer sprach weiter.
    »Mich würde es wundern, wenn er sich umgebracht hätte. So oder so sollten Sie sich keine Vorwürfe machen, aber das werden Sie, zumindest eine Zeit lang. Wichtig ist, was mit Lock geschieht. Wenn Sie Gerstman einem Risiko ausgesetzt haben, dann schwebt auch Lock in Gefahr. Und er wird das wissen. Er wird Angst haben. Vielleicht ist das der Grund, warum Gerstman sterben musste. Also stehen wir vor einer Entscheidung. Üben wir weiter Druck auf Lock aus? Oder lassen wir ihn in Ruhe, obwohl wir vielleicht die Chance sind, die er auf eine Zukunft hat?«
    Erst jetzt begriff Webster, dass dies natürlich der Punkt war, an dem dieses Gespräch enden musste: damit, dass er einwilligte, an dem Fall weiterzuarbeiten oder aber ihn für immer zu den Akten zu legen. Er war hergekommen, weil er hören wollte, dass Gerstmans Tod nicht seine Schuld war. Er hatte überhaupt nicht an seine Verantwortung gegenüber Lock gedacht.
    Hammer wartete geduldig auf seine Antwort. Was er hören wollte, war Webster klar: Man darf niemals zurückweichen. Man muss immer zu Ende bringen, was man angefangen hat.
    »Ich denke, dass wir aufhören sollten, daran zu arbeiten«, sagte er schließlich. Hammer, dessen Gesicht von den Flammen
erleuchtet wurde, schwieg. »Ich will keine weiteren Landminen mehr zur Explosion bringen. Kein Einmischen mehr. Ich glaube, wir hätten wissen sollen, wie groß die Sache ist. Es tut mir leid.«
    Webster stand auf, entschuldigte sich noch einmal und verließ das Zimmer und Hammers Haus. Draußen war es dunkel. Er machte sich auf den Weg nach Hause, den Hügel hinunter und drei oder vier Kilometer in westlicher Richtung. Kein Einmischen mehr. Diese rücksichtslose Kampagne war vorbei, die Verluste bereits zu groß.

    In dieser Nacht träumte er kurze, drastische Träume, die nie zu einer Auflösung fanden. In einem saß er mit Lock in einem Ruderboot auf einem schmalen Fluss im Schatten von Bäumen. Er hielt die Ruder und ruderte mit langsamen, regelmäßigen Schlägen, während Lock, der ihm in schwarzem Anzug mit hängender roter Fliege gegenübersaß, fröhlich über sein Leben in der Südsee sprach, als wäre er Stevenson oder Gauguin. Dann verzog Lock das Gesicht und griff nach den Seiten des Bootes; Webster hatte das Gefühl, hintenüberzukippen, als der Fluss hinter ihm steil nach unten abfiel. Er erwachte mit schweißnassem Hinterkopf.

7
    Nach Gerstmans Tod fing Locks Fantasie wieder an zu arbeiten. Sie war nie besonders aktiv gewesen, doch in Russland hatte sie irgendwann, ohne dass er es bemerkt hatte, einfach abgeschaltet. Er hatte sie nie wirklich gebraucht oder gar vermisst, doch als er herausfand, was Dmitri Gerstman zugestoßen war, erwachte sie unaufhaltsam zum Leben, so sehr er auch dagegen ankämpfte.
    Die Szene lief jedesmal rückwärts ab, in mehreren Schritten. Er hörte einen Gast schreien. Er sah die Portiers mit Koffern in der Hand stehen bleiben. Er sah den zerschmetterten Körper auf dem Steinpflaster vor dem Hotel, gekleidet in einen dunklen Anzug, der immer noch seltsam makellos wirkte. Er hörte den kurzen, schweren Aufprall, mit dem er auf dem Boden aufschlug. Doch am lebhaftesten war das Bild von Gerstman in der Luft, fallend, nicht sehr tief, ungefähr fünfzehn Meter, vielleicht nur eine oder zwei Sekunden lang. Das Bild saß unauslöschlich in seinem Kopf, und er fragte sich, ob sein Freund während seines Sturzes gewusst hatte, dass sein Tod, wie jeder vernünftige Mensch annehmen musste, kein Unfall war.
    Als er am Tag, nachdem er diese Nachricht bekommen hatte, zu seinem regelmäßigen Treffen mit Malin aufbrach,

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