Der Lockvogel
erfüllte diese Szene sein Denken, intensiv und unablässig. Er
konnte nicht viel berichten: Die Internetseiten der Zeitungen meldeten lediglich, dass Dmitri gestürzt und gestorben war und dass der Verdacht bestand, Alkohol habe eine Rolle gespielt. Die Polizei hielt es für einen Selbstmord. Lock nicht.
Locks Büro war in der Koschewnitscheski Pereulok, drei Kilometer flussabwärts vom Kreml und dem Industrie- und Energieministerium. Jeden Dienstagabend um Viertel nach sieben ging er nach unten, und sein Fahrer brachte ihn ins Ministerium. Dort erstattete er ab acht Uhr Malin Bericht über die Woche, immer in der gleichen Reihenfolge: Ereignisse, Chancen, Gefahren. Das Meeting dauerte eine halbe Stunde, manchmal eine Dreiviertelstunde. Früher, bevor Malin zu dem Mann geworden war, der er war, hatten sie anschließend zusammen gegessen, aber schon seit einigen Jahren ließ sich Lock danach einfach von seinem Fahrer heimfahren.
An diesem Abend jedoch hatte er das Bedürfnis zu laufen. Das war ungewöhnlich. Er war kein großer Fußgänger und Moskau auch nicht das richtige Pflaster für einen zwanglosen Spaziergang. Doch nachdem er den ganzen Tag lang gesessen und sich Sorgen gemacht hatte, taten ihm Kopf und Rücken weh, und er hatte das Bedürfnis nach Luft und Bewegung. Außerdem wollte er jemanden anrufen.
Er ging in Richtung Fluss, und ab der Nowospasski-Brücke am Westufer entlang in nördlicher Richtung. Der erste Frost lag in der Luft, und sein dünner Regenmantel bot kaum Schutz. Er beschleunigte seine Schritte, um warm zu bleiben. Die Autoschlangen neben ihm bliesen ihren grauen Atem in die Luft, und am gegenüberliegenden Ufer waren durch die struppigen, kahlen Bäume hindurch die niedrigen
weißen Mauern des Nowospasski-Klosters zu sehen, die in der Dunkelheit von spärlichem Flutlicht bernsteinfarben erleuchtet wurden. Doch die Kälte wirkte belebend, und Lock musste daran denken, dass in solchen Nächten, wenn nach dem stickigen Sommer die erste wirkliche Kälte in die Stadt eindrang, selbst er ihre Schönheit sehen konnte.
Er zog eines seiner Handys aus der Jackentasche und suchte die Nummer seines Vaters heraus. Heute war sein Geburtstag. Lock hätte ihn schon morgens anrufen sollen, hatte es aber aufgeschoben. Irgendwie erschien es ihm unpassend, von seinem Büro aus mit seinem Vater zu sprechen, so als würde man aus dem Bett der Geliebten zu Hause anrufen.
Er drückte den Knopf, und nach einer langen Pause ertönte das Klingelzeichen.
»Hallo met Everhart.«
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Vater. Hier ist Richard.« Lock sprach Englisch mit seinem Vater, sein Holländisch war seit seiner Kindheit ziemlich eingerostet.
»Dank u , Richard. Schön, dass du anrufst.«
»Das ist doch selbstverständlich. Wie geht’s dir?«
»Mir geht es gut, danke.« Everhart neigte am Telefon dazu, sich kurzzufassen. Er betrachtete es als ein Gerät zum Informationsaustausch, nichts weiter.
»Hast du meine Karte bekommen?«
»Das habe ich. Danke.«
Es hatte eine Zeit gegeben, in der der neureiche Lock seinem Vater teure Geschenke gekauft hatte: eine Armbanduhr, einen Füllfederhalter. Nach dem dritten Jahr hatte sein Vater durchblicken lassen, dass er nichts brauchte, und ihn gebeten, damit aufzuhören.
»Hattest du einen guten Tag?« Locks Hand war in dem
Wind, der von Norden her den Fluss entlangblies, schon steif vor Kälte.
»Ja. Ich bin nach Zandvoort gelaufen.«
»Aber hoffentlich nicht hin und zurück?« Zandvoort lag mindestens zwanzig Kilometer von Noordwijk entfernt.
»Zurück habe ich den Bus genommen. Es war ein wunderschöner Tag.«
»Gut. Das freut mich. Was ist heute Abend? Unternimmst du etwas?«
»Maartje kommt und kocht für mich.« Maartje lebte in Noordwijk. Lock hatte den Eindruck, dass sie und sein Vater sich oft sahen.
»Schön. Also, alles Gute.«
»Danke für den Anruf, Richard. Auf Wiederhören.«
»Auf Wiederhören.«
Einen Augenblick lang spürte Lock diesen Rest von Traurigkeit, den er immer fühlte, wenn sie miteinander sprachen. Er hatte keine Ahnung, ob dieser Anruf seinen Vater erfreut oder ebenfalls traurig gemacht hatte. Es war diese Unergründlichkeit, die er so ermüdend fand.
Doch das reichte nicht aus, um ihn von den Gedanken an Gerstman und Malin abzulenken, die ihn den ganzen Tag lang beschäftigt hatten. Verschiedene Fragen drängten sich ihm auf, aber eine kehrte immer wieder: Warum sollte Malin Gerstmans Tod wollen? Warum sollte er, der in
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