Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
paar Kneipen geöffnet; ein Bier würde jetzt schmecken, vielleicht auch zwei. Reiska war aufgeputscht und verärgert zugleich, in diesem Zustand geriet er meist in Schwierigkeiten.
Auf halber Strecke spürte ich, wie sich Reiska von mir löste. Ich steckte immer noch in seinem Kostüm, dachte aber wieder wie Hilja. Allerdings waren auch diese Gedanken nicht erhebend, ich fühlte mich gedemütigt, enttäuscht und erschrocken. David hatte Rytkönen mehr anvertraut als mir, Rytkönen wusste, wo David war, und was er angedeutet hatte, klang nicht gut. Ich befahl Reiska, in die Yrjönkatu zu gehen und sich schlafen zu legen, und er gehorchte. Reiska war so lange in Ruhestellung gewesen, dass sein eigener Wille noch nicht wieder sehr ausgeprägt war. Es gelang mir mühelos, seine Einwände abzuschmettern.
Meine eigenen Gedanken zum Schweigen zu bringen war wesentlich schwieriger. Das erforderte einen Tequila, und gleich noch einen zweiten hinterher. Nachdem ich mir den dritten eingegossen hatte, kramte ich Davids Fotos hervor und holte den Ring. Ich hatte ihn nur einmal kurz übergestreift, als ich ihn gefunden hatte. Jetzt schob ich ihn wieder über den linken Ringfinger und kippte den Schnaps hinunter. Ich brüllte Davids Fotos an, bis mir der Schweiß auf die Stirn trat. Schließlich ging ich mit den Fotos ins Bad, streifte den Ring ab und hielt ihn mitsamt den Bildern über die Kloschüssel.
«Verdammter Stahl, jetzt bist du Vergangenheit», fauchte ich, brachte es dann aber doch nicht fertig, die Sachen ins Klo zu werfen. Bei David war ich erbärmlich weich geworden. Sein Bild schien mir zuzuzwinkern und siegessicher zu grinsen. Ich trank noch einen vierten Tequila.
Den Montag verbrachte ich im Bett. Ich hatte einfach keine Lust aufzustehen, mir war die ganze Welt zuwider. Am Dienstag kehrte die Grippewelle ins Sans Nom zurück, sodass ich für den Rest der Woche von früh bis spät schuften musste. Am Freitagabend füllte sich das Restaurant mit einer Gruppe finnlandschwedischer Damen, die ein wenig verfrüht den Advent feierten. Zum Teil handelte es sich um alte Bekannte von Monika, doch sie waren trotzdem anspruchsvolle Gäste und ließen die armen Kellnerinnen springen, die sich in der Küche beklagten, während ich Wurzelfrüchte in die Schälmaschine gab. Zwischendurch warf ich einen Blick auf den Monitor, um zu sehen, ob die Damen wirklich so unmöglich waren, wie ihnen nachgesagt wurde. Die Signallampe zeigte flackernd an, dass der Speicher fast voll war, doch das war mir im Moment egal – denn neben der Damengesellschaft saß ein alter Bekannter. Kein anderer als Martti Rytkönen.
«Was hat der Muskelprotz bestellt?», fragte ich Helinä.
«Der einzelne Mann da? Tofuspieße.»
«Ich bringe sie ihm. Kommt ein Getränk dazu?»
«Orangenschorle. Ein Glas hat er schon getrunken, er schien durstig zu sein.»
Ich nahm das Tablett mit Rytkönens Bestellung und trug es an seinen Tisch. Die Damen neben ihm gackerten fröhlich, doch Rytkönen schien sich nicht daran zu stören. Er thronte an seinem Zweiertisch wie ein König.
«Guten Abend», sagte ich und tat gleich darauf überrascht. «Aber wir kennen uns doch … wir sind uns bei Hauptmeister Laitio begegnet.»
Rytkönen war nicht im Geringsten erstaunt, mich im Sans Nom anzutreffen.
«Hilja Ilveskero, ja, ich erinnere mich. Laitio hat mir dieses Restaurant empfohlen. Ich hatte allerdings gedacht, er wäre ein Freund von Steaks. Hast du die Arbeit als Leibwächterin ganz an den Nagel gehängt?» Kritisch beäugte er seinen Teller. Auf den Spießen steckten in Sesamöl-Chili-Soße marinierter Hanfsamen-Tofu, Schalotten und Paprikawürfel, gedämpfte Hirse und eine Maissoße mit Knoblauch vervollständigten die Portion. Den Mais hatten wir im Frühherbst in Pikkala selbst geerntet, und ich erinnerte mich noch gut daran, wie die Blätter mir die Finger zerschnitten hatten.
«Die Arbeit im Restaurant gefällt mir sehr gut. Im Sicherheitsbereich waren in letzter Zeit kaum Stellen frei.»
«Zumal du ja ein bisschen Mist gebaut hast – das heißt mehr als nur ein bisschen. Eine deiner Schutzbefohlenen wurde ermordet, die andere entführt.»
Die Orangenschorle war zum Greifen nahe, ich hätte sie Rytkönen buchstäblich im Handumdrehen über den Kopf schütten können.
«Und wie geht es deinem Freund?», erkundigte sich Rytkönen grinsend.
«Welchem?»
«Dem halben Esten, David Stahl. Oder hast du ihn schon zu den Akten gelegt?»
«Ich brauche mich
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