Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
Dachrinnen und um die Fenster. Nur das Ateliergebäude war nicht mit Lampen dekoriert. Als ich den Lieferwagen auf den Parkplatz lenkte, öffnete Trankow die Tür. Im Atelier wiederholte er die Wangenkusszeremonie, was mir überhaupt nicht unangenehm war. Der ausgestopfte Luchs war glücklicherweise nicht zu sehen. Dafür standen nun eine breite rote Schlafcouch und ein runder Tisch im Atelier. Um Platz für die Möbel zu schaffen, hatte Trankow die Gemälde an einer Wand gestapelt, nur ein einziges Bild stand auf einer Staffelei. Ich ging hin, um es zu betrachten, und Trankow folgte mir, so dicht, dass ich seinen Geruch und die Wärme seines Körpers wahrnahm.
Der Luchs war noch lebendiger geworden. Die Sonne, die über den Berggipfeln im Hintergrund unterging, färbte sein Fell goldgelb. Im Vordergrund, unterhalb der Frau und des Luchses, wogte ein See. Ich wusste nicht, welche Landschaft Trankow abbilden wollte, vielleicht war sie ein Produkt seiner Phantasie.
Die Frauengestalt war noch unvollendet. Die Rosen in dem Blumenkranz hatten den gleichen Ton wie das Luchsfell, die um sie gewundenen grünen Ranken flatterten im Wind. Die Schenkel der Frau waren kraftvoll, ihre nackten Zehen ruhten im Moos. Die eine Hand hatte sie wie zum Gruß erhoben, die andere lag auf dem Nacken des Luchses. Oberkörper und Gesicht waren noch schemenhaft.
«Ich habe den Gedanken aufgegeben, dass die Luchsprinzessin lange Haare hat. Kurz müssen sie sein, wie das Luchsfell. Kannst du dich wieder ausziehen? Warm genug ist es doch. Eigentlich reicht es, wenn du dich obenrum frei machst.»
Trankow sprach geradezu unterwürfig. Ich zog die Jacke und den Pullover aus, dann auch das T-Shirt, das ich in einem schwachen Moment am Flughafen gekauft hatte. Es war mit einem Luchskopf verziert, genau wie das, das ich David in Spanien geschenkt hatte. Jetzt hatte ich es angezogen, weil es mir nichts mehr bedeutete.
Trankow brachte mich in dieselbe Position wie beim letzten Mal, holte den ausgestopften Luchs aber nicht hervor.
«Wo ist mein Gefährte? Brauchst du ihn nicht mehr?»
Trankow wirkte verwundert. «Ich dachte, du magst ihn nicht, weil er tot ist. Deshalb habe ich ihn weitergegeben, an einen Bekannten, der ein Restaurant besitzt.»
«Du hast recht, ich mochte ihn nicht. Und der Luchs auf dem Bild ist ja schon fertig. Aber kann ich trotzdem irgendwas bekommen, um die Hand daraufzulegen, damit die Haltung natürlich wirkt?»
Trankow holte einen Hocker, schraubte ihn auf die passende Höhe und legte meine Hand darauf. Ich spürte, dass ich bei seiner Berührung eine Gänsehaut bekam und meine Brustwarzen hart wurden. Trankow gab nicht zu erkennen, ob er es bemerkte. Er schaltete alle Lampen ein, löschte dann einige wieder, regulierte per Fernbedienung die Position einzelner Strahler, erprobte verschiedene Möglichkeiten. Er wirkte sehr konzentriert und professionell, und ich mit meiner Bewunderung für Menschen, die ihr Metier verstehen, hätte beinahe vergessen, unter welchen Umständen ich ihm zum ersten Mal begegnet war. Ich beeilte mich, es mir in Erinnerung zu rufen.
«Ist alles in Ordnung? Nicht zu kalt, kein Durst?», fragte Trankow, als er endlich mit der Beleuchtung zufrieden war.
«Alles bestens.»
«Dann können wir anfangen. Denk dran: Du bist wachsam. Du weißt, dass deine Feinde nicht weit sind. Ihr hört ihre Hunde schon kläffen, doch ihr fürchtet euch nicht, denn ihr seid listiger.»
Trankows Versuch, meine Phantasie zu beschwören, weckte seltsamerweise Erinnerungen an Mike Virtues Übungen an der Sicherheitsakademie Queens. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, was Mike sagen würde, wenn er mich in dieser Situation zu Gesicht bekäme. Stattdessen dachte ich an Frida. Ich hatte ein paarmal gesehen, wie sie sich verhielt, wenn sie Hunde witterte. Ihre Augen vergrößerten sich, ihr Fell sträubte sich, ihr Stummelschwanz peitschte durch die Luft wie der einer wütenden Katze. Ich ließ Frida in mein Inneres, sah das Ufer in Hevonpersiinsaari und die gegenüberliegenden Inseln vor mir, spürte den Geruch des heißen Felsens und das weiche Moos unter meinen Füßen.
Trankow warf mir von Zeit zu Zeit einen Blick zu, doch er sah nicht mich, sondern das Motiv seines Bildes. Zwischendurch mischte er Farben, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und bekam dabei einen Tupfer braune Farbe auf die Stirn. Mal führte er den Pinsel langsam und konzentriert, dann wieder schnell, fast schlagend. Aus den
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