Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
dass ihnen beispielsweise unter Freunden in der Sauna das eine oder andere Geheimnis entschlüpfte. Mike Virtue war fassungslos gewesen, als ich ihm von den Saunagepflogenheiten der finnischen Politiker erzählte. Gingen sie tatsächlich mit den Führern der Nachbarstaaten nackt in die Sauna? Begriffen die Finnen denn nicht, dass sie heimlich fotografiert und erpresst werden konnten? Und war es vernünftig, dass ein führender Politiker oder Geschäftsmann sich vor anderen entblößte? Das konnte doch seine Verhandlungsposition schwächen! Eduardo hatte daraufhin in seiner unverblümten Art gefragt, ob Virtue meine, dass ein Mann, dessen Schwanz kleiner war als der des Verhandlungspartners, seine Glaubwürdigkeit verliere, und Mike hatte genickt. Ich hatte vor allen Kursteilnehmern schildern müssen, wie man in Finnland geschäftliche Dinge bei ausgedehnten Saunabesuchen besprach, und anschließend hatten wir eine Risikoanalyse erstellen müssen.
Die Hitze und die Nacktheit waren nicht das Einzige, worüber Mike Virtue den Kopf schüttelte. Auch das Feuer, das im Kamin und im Saunaofen brannte, das siedend heiße Wasser und der Temperaturunterschied von über hundert Grad Celsius oder zweihundertzwölf Grad Fahrenheit, wenn man aus der Sauna in die Frostluft ging, waren ihm gefährlich erschienen. Als ich erzählte, dass man sich zur Abkühlung im Schnee wälzte oder in einem Eisloch schwamm und dass die Saunierenden bisweilen beschwipst waren, erklärte Mike, als Leibwächter würde er seinem Schutzobjekt schlicht und einfach verbieten, am finnischen Saunaritual teilzunehmen. Ich hatte bei dieser Gelegenheit den Respekt der anderen Kursteilnehmer gewonnen: Die Finnen hatten ganz schön Schneid! Sich vor Fremden nackt auszuziehen und obendrein in eiskaltes Wasser zu tauchen! Einige der männlichen Kursteilnehmer hatten mich inständig gebeten, ihre Badefrau zu sein, denn in New York gab es alles, sogar finnische Saunas.
Ich lud ein aktuelles Foto von Usko Syrjänen hoch. Obwohl ich sicher war, ihn zu erkennen, wenn er mir begegnete, prägte ich mir seine Gesichtszüge noch einmal ein. Auf den ersten Blick wirkte er allerdings nicht besonders beeindruckend. Ein etwas über fünfzigjähriger, mittelgroßer Mann, der sich mit Golf und Abfahrtslauf fit hielt. Die Schultern unter dem Pullover waren sportlich breit, der Bauch wölbte sich nur ganz leicht vor. Seine Beine waren im Verhältnis zum restlichen Körper kurz. Syrjänen trug gern Cowboystiefel und präsentierte sich als Selfmade-Mann im Westernstil. Seit einer Laseroperation, der er sich vor einigen Jahren unterzogen hatte, brauchte er keine Brille mehr, aber auf allen Fotos, die ich fand, kniff er die Augen mit den Schlupflidern ein wenig zusammen. Unter den Augen waren schwere Tränensäcke zu erkennen. Syrjänen hatte extrem schmale Lippen und einen kleinen Mund. Er zeigte sich gern mit einem Ein- bis Zweitagebart, und auf dem neuesten Foto trug er außerdem einen kleinen Schnurrbart.
Im Osten wurde der Himmel heller. Über dem Stadtteil Käpylä waren purpurrote Streifen zu sehen. Ich schaltete das Licht und den Computer aus. Mein Denken abzuschalten dauerte allerdings länger. Die Karte von Kopparnäs schwirrte mir im Kopf herum und vermischte sich mit der Erinnerung daran, wie ich David beim Pilzesammeln in Kopparnäs begegnet war und ihm beinahe Spitzgebuckelten Raukopf ins Essen gemischt hätte. Ich trug die getrockneten, hochgiftigen Pilzstückchen immer noch mit mir herum. Sie wirkten nicht so schnell wie Zyanid, sie waren nicht für mich bestimmt, sondern für Feinde. Man konnte nie wissen, wer sich als solcher erweisen würde.
Als ich wach wurde, musste ich mich in Rekordzeit anziehen, um das Frühstück nicht zu verpassen. Die ersten Schüsseln wurden bereits abgetragen, als ich ans Buffet stürzte und mir Rührei, Speck, Roggenbrot und Salzhering auf den Teller lud. Auch die Waldbeeren aus der Tiefkühltruhe schmeckten herrlich; am Vortag hatte ich völlig vergessen, etwas zu essen. Ich ließ mich nicht davon beirren, dass die Kellnerinnen demonstrativ mit dem Geschirr klapperten, sondern frühstückte in aller Ruhe und trank drei Tassen Kaffee. Danach fühlte ich mich ausreichend gestärkt, um Teppo Laitio anzurufen. Ich ging in mein Zimmer, putzte mir die Zähne und merkte plötzlich, dass ich versäumt hatte, Laitio aus Italien eine gute Zigarre mitzubringen. Er arbeitete vorwiegend in seiner Wohnung in der Urheilukatu, weil im Gebäude
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