Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
wusste also ebenso wenig wie ich, wo sich David aufhielt, schien aber über seine falsche Identität informiert zu sein. Sollte ich meinen Stolz herunterschlucken, zu ihm gehen und ihn um Aufklärung bitten? Die Antwort lautete nein. Warum sollte Rytkönen mir irgendetwas verraten? Dass ich David Stahls Freundin war, fiel nicht ins Gewicht. Es schien ja auch David nichts zu bedeuten. Inzwischen war fast ein halbes Jahr vergangen, seit er in Montemassi verschwunden war.
«Bist du noch dran?» Ich sah, wie Rytkönen die Stirn runzelte. «Hatte zwischendurch jemand anderes dein Handy? Wer?»
Zu gern hätte ich Rytkönen kräftig an der Nase herumgeführt. Doch während ich noch über eine passende Antwort nachdachte, klopfte mir jemand auf die Schulter. Es war Monika.
«Störe ich?», fragte sie. Hastig unterbrach ich die Verbindung. Rytkönen zischelte weiter auf Schwedisch in sein Handy.
«Ich habe gerade versucht, eine alte Bekannte zu erreichen, ich dachte, sie wäre vielleicht auch auf der Messe.» Ich log Monika ungern an, aber mir entschlüpften oft Unwahrheiten, bevor ich Zeit gehabt hatte, über ihre Folgen nachzudenken. Rytkönen verstaute die Handys wieder in seinen Taschen, wobei ihn die Frauen am Nachbartisch amüsiert beobachteten. Dann stand er auf. Er trug keinen Trauring, doch das hatte heutzutage überhaupt nichts mehr zu bedeuten. Ich drehte mich rasch um und betrachtete die Jugendbuchdeckel, denn Rytkönen kam direkt auf uns zu. Natürlich sah ich nicht, wie er an uns vorbeiging, aber ich spürte es. Als ich seine graue Gestalt kurz danach auf dem Gang entdeckte, der zur mittleren Halle führte, schlug ich Monika vor, nach Hause zu fahren. Vor der Eröffnung gab es noch viel zu tun.
Es war typisch für Monika, dass sie eine Eröffnungsfeier für jedermann plante. Das war in vielerlei Hinsicht riskant: Einige der an VIP -Veranstaltungen gewöhnten Wichtigtuer würden womöglich verärgert fernbleiben, weil sie sich nicht unter das gewöhnliche Volk mischen wollten, und eine offene Veranstaltung konnte allerlei Stromer anlocken. Mit denen würde ich allerdings fertigwerden.
Monika wollte jeden Montag einen Mittagstisch mit Suppe für zwei Euro anbieten, zu dem alle willkommen waren. Wer es sich leisten konnte, durfte auch mehr bezahlen.
Ein paar Mitarbeiter hatten schon vor der Eröffnung des Sans Nom Bedenken geäußert, sie meinten, diese Geschäftsidee könne nicht erfolgreich sein. Ich beruhigte sie mit dem Hinweis, dass Monika Geld genug hatte, um Verluste wegzustecken. Die Gehälter würden auf jeden Fall bezahlt werden.
Reichtum war etwas Seltsames. Ich hatte keine persönliche Erfahrung damit, ich hatte zuerst jeden Penni, dann jeden Cent dreimal umdrehen müssen. Meine Ausbildung an der Sicherheitsakademie Queens hatte ich von dem Geld finanzieren können, das meine Großmutter väterlicherseits mir hinterlassen hatte, aber sowohl das Erbe als auch alles, was ich bis dahin gespart hatte, war in New York draufgegangen. Onkel Jari hatte mir nur die Hütte in Hevonpersiinsaari samt Einrichtung hinterlassen. Sein Einkommen hatte gerade für unseren Lebensunterhalt gereicht. Andererseits hatte ich einige wohlhabende Auftraggeberinnen erlebt, die spontan zehntausend Euro für einen Pelz oder einen Luxusurlaub hinblätterten, ohne mit der Wimper zu zucken. In Hevonpersiinsaari hatten wir von dieser Summe ein ganzes Jahr gelebt. Monika war obendrein eine Reiche von der schlimmsten Sorte: Sie hatte ihr Vermögen geerbt. Indem sie anderen half, versuchte sie sich meiner Meinung nach von der Sünde des Reichtums freizukaufen, doch das tat sie ohne Hintergedanken, weil sie war, wie sie war. Ich hatte dafür zu sorgen, dass ihre Gutmütigkeit sie nicht in Gefahr brachte.
David hatte einmal behauptet, er arbeite für denjenigen, der am besten zahlte. Unter welchem Ausgabenposten verbuchte Europol Kopfgelder, wer hatte den Befehl zum Töten gegeben? Mit welchem Recht tötete man Terroristen? Meine amerikanischen Mitschüler hatten uns Europäern vorgeworfen, wir seien moralisierende Schöngeister, die nicht begriffen, dass Selbstjustiz und Todesurteile manchmal die einzige Option waren. Mike Virtue hatte sie rasch zum Schweigen gebracht.
Ach, Mike … Was würde er mir raten? Sollte ich ihm einen altmodischen Einschreibebrief schicken? Nein, es war zu schwierig, die richtigen Worte zu finden. Zudem hätte Mike mich nur getadelt, weil ich eine ganze Menge Risiken eingegangen war.
Frau Voutilainen
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