Der Löwe
ebenso ungehörig gekleidet wie der junge Mann und
die Frau vor ihm. Außerdem stellte er fest, dass fast jeder eine Kamera hatte, Fotos von dem riesigen Loch im Boden machte und dass einige Leute an dem Geländer posierten.
Zahlreiche von Hand beschriftete Schilder hingen an diversen Stellen, und auf einem stand: GEHEILIGTER BODEN – SEIEN SIE RESPEKTVOLL.
Khalil erinnerte sich an ähnliche Hinweise in europäischen Kathedralen, in denen um Stille und Respekt gebeten wurde und bei deren Anblick ihm der Gedanke gekommen war, dass solche Ermahnungen eigentlich nicht nötig sein sollten. In einer Moschee war so etwas unvorstellbar.
Auf einem anderen Schild stand: HIER STARBEN FAST DREITAUSEND UNSCHULDIGE MÄNNER, FRAUEN UND KINDER BEI EINEM ANSCHLAG VON UNSÄGLICHER GEMEINHEIT. BETET FÜR SIE.
Khalil betete lieber für die zehn Männer in den beiden Flugzeugen, die den Märtyrertod für den Islam gestorben waren.
Er bemerkte zahlreiche Blumensträuße, die an den Geländern hingen, und das erinnerte ihn an Haythams Tochter. Eine schöne junge Frau, aber ganz offensichtlich keine sittsame. Die strengste Strafe war jenen vorbehalten, denen die Erleuchtung geschenkt worden war und die sich davon abgewandt hatten. Für die Familie Haytham war kein Platz im Paradies; für sie gab es nur das ewige Höllenfeuer.
Asad Khalil blickte jetzt auf die riesige Grube unter ihm. Er war erstaunt, dass keine Trümmer mehr zu sehen waren, nur die blanke Erde, auch wenn die Wände der Grube, die rund fünfzig Meter aufragten, betoniert waren. Eine große Rampe aus Erde führte in die Grube, an deren Boden er jetzt Lastwagen und Geräte stehen sah. Er schaute dorthin, wo der Nordturm gestanden hatte, und dachte an den ersten Anschlag am 16. Februar 1993: Ein Kleinbus voller Sprengstoff war im unterirdischen Parkhaus explodiert. Das Gebäude war nur leicht
beschädigt worden, und es hatte lediglich sechs Todesopfer gegeben, allerdings tausend Verletzte. In den Reihen der Dschihadisten hatte man befürchtet, dass dieser gescheiterte Anschlag die Amerikaner warnen und ihnen klarmachen würde, dass die Türme Ziel eines weiteren Anschlags werden könnten. Aber die Amerikaner hatten keine derartigen Schlussfolgerungen gezogen, obwohl Khalils Meinung nach jeder Idiot hätte darauf kommen müssen.
Khalil blickte über die offene Grube hinweg zu den beschädigten Gebäuden, die das zerstörte Areal säumten. Dann blickte er zum Himmel auf, in den die beiden Türme geragt hatten, und er erinnerte sich an die Bilder, die er gesehen hatte, als Menschen aus den brennenden Gebäuden gesprungen und Hunderte von Metern in den Tod gestürzt waren. Die ganze Welt hatte diese Bilder gesehen, und überall wurden in aller Öffentlichkeit Mitgefühl, Schrecken, Entsetzen und viel Wut geäußert. Aber insgeheim – und manchmal auch öffentlich – gab es, wie er gesehen und gehört hatte, auch andere Äußerungen, die nicht so mitfühlend mit den Amerikanern waren. Bei manchen Menschen hatte sogar große Freude geherrscht, und nicht alle waren Muslime gewesen. In Wirklichkeit waren die Amerikaner nicht so beliebt, wie sie meinten oder es sich wünschten. Und als sie das herausfanden, schienen sie die Einzigen zu sein, die davon überrascht waren.
Ein Mann mittleren Alters, der in seiner Nähe stand, sagte zu seiner Frau: »Wir sollten diese Mistkerle vernichten.«
»Harald. Sag so etwas nicht.«
»Warum nicht?«
Der Frau war anscheinend bewusst, dass der Mann, der neben ihnen stand, ein Ausländer sein könnte. Vielleicht sogar ein Muslim. Sie stupste ihren Mann an, nahm ihn am Arm und zog ihn weg.
Khalil lächelte.
Jetzt bemerkte er eine Schar junger Männer und Frauen, die T-Shirts trugen, auf denen das Gesicht eines bärtigen Mannes prangte und dazu die Worte: »Was würde Jesus tun?«
Khalil fand diese Frage gut, und obwohl er die christlichen Testamente gelesen hatte, die den Muslimen ebenso heilig waren wie die hebräischen, konnte er diese Frage nicht zufriedenstellend beantworten. Jesus war ein großer Prophet gewesen, aber seine Botschaft von Liebe und Vergebung sprach ihn nicht an. Er zog die strengen Worte und Taten der hebräischen Propheten vor, denn die verstanden die Herzen der Menschen besser. Jesus, so fand er, hatte es verdient, durch die Hand der Römer zu sterben, die um die Gefahr wussten, die von einem Mann ausging, der Liebe und Frieden predigte.
Die kleine Schar junger Männer und Frauen kniete jetzt am Geländer
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