Der Löwe
dass das dünne Metall, das im Gehirn des Mannes steckte, ihn möglicherweise nicht sofort töten würde, deshalb musste er warten, bis die innere Blutung sein Werk vollendete. Aber Amir ließ sich mit dem Sterben Zeit, und Khalil wurde ungeduldig. Er blickte aus dem Fenster des Taxis und sah weiter hinten einen jungen Mann in die Murray Street kommen. Er war leger gekleidet, und Khalil glaubte nicht, dass es ein Polizist war, aber trotzdem könnte er ihm Schwierigkeiten bereiten.
Amir sagte mit schwacher Stimme: »Was ist passiert …?«
Khalil zog den Eispfriem heraus, steckte ihn in die Jackentasche, drückte dann die Baseballkappe auf Amirs Kopf und sagte zu ihm auf Arabisch: »Die Engel werden dich ins Paradies
bringen.« Er griff über die Sitzlehne und zog Amir das Handy aus der Hemdtasche. Auf Amirs Telefon waren zu viele Anrufe von Khalils Handy registriert.
Khalil nahm seine Reisetasche und stieg aus dem Taxi. Der Mann auf dem Gehsteig war jetzt nur noch knapp dreißig Meter entfernt, und Khalil lief auf ihn zu. Der Mann hatte offensichtlich nicht bemerkt, was im Taxi geschehen war, und Khalil wollte ihn nicht auf offener Straße töten, aber notfalls musste er es tun. Er ging an dem Mann vorbei und blickte dann zu ihm zurück, als er sich dem Taxi näherte.
Der Mann warf einen Blick ins Taxi, lief aber weiter, und Khalil ging zur Ecke Church Street. Er schaute sich erneut um und erschrak, als er sah, dass Amir, der noch immer die Baseballkappe trug, aus dem Taxi gestiegen war, mit den Armen herumfuchtelte und zu gehen versuchte. Der Mann, der am Taxi vorbeigekommen war, lief weiter, ohne Amir wahrzunehmen, der jetzt auf der Straße zusammenbrach.
Khalil ging zur Straßenecke, verfluchte sich, weil er sich für den Eispfriem entschieden hatte, und dachte, dass die Glock vielleicht für sie beide die bessere Wahl gewesen wäre. Auf jeden Fall war die Sache ohne allzu große Schwierigkeiten vonstattengegangen, und als er in die Church Street einbog, wusste er, dass er nicht mehr in Gefahr war. Er warf Amirs Handy in einen Gully und lief weiter.
Auf der Church Street befanden sich die meisten Menschen in der Nähe der überdachten Plattform, von der aus man Ausblick auf die Stelle hatte, an der die Dschihadisten ihren großen Sieg über die Amerikaner errungen hatten. Er ging einen Schritt schneller und konnte es kaum abwarten, sich den Krater anzusehen.
Im Laufen dachte er über das nach, was vor ein paar Minuten geschehen war. Jedes Mal, wenn er einen Menschen tötete, lernte er etwas dazu; er lernte, wie Menschen ihrem Tod begegneten,
was interessant war, aber nicht lehrreich. Die Tötungsmethoden faszinierten ihn mehr – das Werkzeug, die Wahl von Zeit und Ort, das Beschleichen des Opfers, das Annähern und natürlich die Entscheidung, ob es ein schneller, schmerzloser oder ein langsamer und qualvoller Tod sein sollte. War es Arbeit oder Vergnügen? Er war sich darüber im Klaren gewesen, dass Amir nicht auf der Stelle tot sein würde, aber er hätte schneller und verhältnismäßig schmerzlos sterben sollen. Doch der Mann hatte sich ans Leben geklammert und dadurch unnötig gelitten. Er dachte daran, dass es Boris war, der ihn vor vielen Jahren dazu ermuntert hatte, unter bestimmten Umständen einen Eispfriem zu wählen. Boris hatte ihm erklärt: »Er lässt sich leicht verstecken, er ist schnell und lautlos, er durchbohrt alles. Außerdem fließt kaum Blut, und wenn man ihn ins Gehirn oder ins Herz stößt, ist er immer tödlich.«
Khalil würde dem allwissenden Boris erzählen müssen, was mit Amir geschehen war. Vielleicht sollte er es Boris vormachen. Er dachte auch an Coreys Frau und war zufrieden mit dieser Methode, die seine Landsleute und Kollegen beeindrucken und seinen Feinden Angst einjagen würde. Er bedauerte nur, dass der Tod der Frau verhältnismäßig schmerzlos gewesen und vielleicht zu schnell eingetreten war. Was Corey anging, der würde um seinen Tod flehen, wenn Khalil ihn fertigmachen würde. Etwas Arbeit, viel Vergnügen.
Khalil kam zur Plattform und sah, dass eine Treppe hinaufführte. Er folgte einem jungen Paar, das Shorts und T-Shirts trug und Händchen hielt. In Europa hatte er sogar Männer und Frauen gesehen, die mit nackten Beinen in christliche Kathedralen gegangen waren, und er fragte sich, ob diesen Leuten irgendetwas heilig war.
Er stieg die Treppe hinauf und sah, dass die Plattform überdacht war und dass etwa fünfzig Personen dort standen, die meisten
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