Der Löwe
sie auch auf Haythams Handy auftauchen müssen. War sie aber nicht. Und als Walsh die SMS geschickt hatte, konnte er noch nicht wissen, dass er, Asad Khalil, Haythams Handy in seinem Besitz hatte. Warum also war sie nicht auf Haythams Telefon? Und warum war sie auf Mayfields Handy? Sie war tot, als die Mitteilung geschickt worden war.
Folglich musste diese Mitteilung falsch sein und war offenbar nur an Mayfields Handy geschickt worden, weil Walsh vermutete, dass es in seinem Besitz war. Und deswegen war Mayfields Handy auch noch in Betrieb.
Er setzte sich auf die Bank und starrte auf das in der Sonne gleißende Wasser. Sie versuchten also schlau zu sein. Aber sie waren nicht schlau genug.
Doch … möglicherweise stimmte die Mitteilung, war aber
trotz der Anrede nicht an alle Agenten und Detectives geschickt worden. Vielleicht traute man Haytham nicht. Oder Haytham war aus anderen Gründen nicht angeschrieben worden. Im Grunde genommen wusste Khalil nicht genug über das Innenleben der Task Force, die der libysche Nachrichtendienst – oder seine neuen Freunde von al-Qaida – nicht so gut kannte wie zum Beispiel das FBI.
Auf jeden Fall deutete einiges darauf hin, dass es sich bei dieser Mitteilung um eine Desinformation handelte, und so würde er sie auch betrachten, was Boris freuen würde, der ihn tagelang mit diesem Thema vertraut gemacht hatte. Boris hatte gesagt: »Die Briten sind Meister der Desinformation, die Amerikaner haben das von ihnen gelernt, die Franzosen denken, sie hätten sie erfunden, und die Deutschen sind nicht raffiniert genug, um eine gute Lüge in Umlauf zu bringen. Was die Italiener angeht, eure ehemaligen Kolonialherren, die glauben ihrer eigenen Desinformation und handeln danach.« Boris hatte seinen Vortrag mit den Worten beendet: »Aber im Verbreiten von Desinformationen sind die Leute vom KGB die besten der Welt.«
Khalil hatte seinen Lehrer nicht beleidigen wollen, aber er hatte Boris trotzdem daran erinnert, dass es das KGB nicht mehr gab und daher das Wort »sind« durch »waren« ersetzt werden sollte.
Boris hatte sich an Khalils Beleidigungen gewöhnt, an die unterschwelligen wie auch die anderen, und deshalb hatte er nur gelacht und sich ein weiteres Glas Wodka gegönnt. Malik, der ihm geraten hatte, sich gegenüber dem Russen etwas mehr zurückzuhalten, hatte gesagt: »Er ist eine verlorene Seele aus einem verlorenen Imperium – das gottlose und gottverlassene menschliche Wrack eines gesunkenen Schiffes, das an unseren Gestaden gestrandet ist. Benutze ihn, Khalil, aber bemitleide ihn auch. Er wird hier nicht lebend wegkommen.«
Aber er hatte Libyen mit Hilfe der CIA verlassen, und dann
hatte sich Boris an die Amerikaner verkauft und für sie das Gleiche getan, was er für den libyschen Nachrichtendienst getan hatte: für Geld Geheimnisse verraten. Und beinahe hätte er auch Asad Khalil verraten. Doch jetzt stand auch für Boris der Tag der Abrechnung bevor.
Die Mitteilung von Walsh war zweifellos eine Lüge, dennoch musste Khalil sich so verhalten, als entspräche sie der Wahrheit. Das hatte ihm Boris immer geraten.
Was Mayfield anging, so ließ man zwar ihr Telefon weiter in Betrieb, aber sie war mit Sicherheit nicht mehr am Leben. Zu viel Blut war aus ihrer Kehle gespritzt, als sie dem Erdboden entgegensank. Er konnte so etwas beurteilen; er hatte eine solche Blutung schon vorher gesehen – und verursacht –, und sie führte immer zum Tod. Und wenn nicht, sei es durch Zufall oder weil das Schicksal es so wollte, dann wurde das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen, und das war noch schlimmer als der Tod. Er fragte sich, was Allah mit diesen behinderten Menschen machte, deren Seelen weder ins Paradies eingehen noch in die Hölle verbannt werden konnten. Vielleicht, dachte er, gibt es einen Ort, an dem diese Seelen weilen, während sie auf ihren endgültigen Bestimmungsort warten – einen Ort, an dem ziellose Leiber von einem toten Geist beherrscht werden –, einen Ort, der einem amerikanischen Einkaufszentrum nicht unähnlich ist.
Khalil widmete sich wieder seiner Umgebung. Ein leichter Wind wehte vom Wasser, und der Park war an diesem schönen Tag voller Menschen. Er betrachtete sie, als sie vorüberliefen oder -rannten, mit dem Fahrrad fuhren und auf Rollschuhen vorbeirasten. Ein Pärchen, das ihm auf einer Bank gegenübersaß, erging sich in einer ungehörigen Umarmung. Auf einer anderen Bank saßen zwei Männer in Shorts zu dicht nebeneinander, tranken
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