Der Lord und die Betrügerin
hoffte, das Kelan nicht aufwachte. Nicht in den nächsten Stunden. Wenn sie Elyn finden wollte, brauchte sie Zeit. Das hieß, falls Elyn sich entschlossen hatte zurückzukommen.
So etwas darfst du nicht einmal denken. Natürlich wird sie zurückkommen. Sie würde dich doch nicht im Stich lassen. Nein!
Aber die nagende Sorge verschwand nicht, während sie sich hastig mit dem Wasser aus einer Schüssel wusch. Sie wischte sich das Gesicht und die Arme ab und säuberte die wunde Stelle zwischen ihren Schenkeln mit dem kühlen Wasser. Danach fuhr sie sich mit den Fingern durch ihr Haar und zog ihre Lieblingstunika aus Goldstoff an und dazu Lederstiefel. Nachdem sie sich einen schweren Umhang um die Schultern gelegt hatte, steckte sie ihren Dolch ein, eine Waffe, die sie stets bei sich trug, seit sie dem Banditen im Wald begegnet war, der sie in ihren Gedanken noch immer verfolgte.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie wieder in den Flur trat. Wenn nun jemand während der Zeremonie bemerkt hatte, dass sie nicht Elyn war? Und was würde geschehen, wenn jemand bemerkt hatte, wie Elyn sich wieder ins Schloss geschlichen hatte, und jetzt ihr Vater von ihrem Betrug unterrichtet worden war? Und was wäre, wenn Elyn, was Gott verhindern möge, sich verletzt hatte und gar nicht zurückkommen konnte? ·
Kiera eilte die Hintertreppe hinunter und bereitete sich auf mögliche Begegnungen vor, als sie Schritte auf der Treppe hörte.
»Oh!«, rief Penelope, die ihre Schwester beinahe umgerannt hatte. »Da bist du.« Sie schien erleichtert zu sein. »Wo ist Elyn?«
»Das weiß ich nicht.«
»Was? Aber ich dachte, der Plan wäre...«
»Sie ist gestern Abend nicht zurückgekommen«, flüsterte Kiera, während Penelope ihr die Treppe hinunter folgte. »Ich hatte gehofft, dass du oder Hildy vielleicht etwas von ihr gehört habt.«
»Nein. Ich habe nichts gehört.«
»Verdammt.«
»Dann... dann...« Penelopes Augen wurden tellergroß, als sie begriff. »Aber ich dachte, sie würde rechtzeitig da sein und...«
»Das habe ich auch gedacht!« Kiera schubste ihre Schwester in einen Alkoven und presste warnend einen Finger auf die Lippen. »Es war ja am Ende gar nicht so, dass wir uns abgesprochen haben. Sie konnte ja auch glauben, dass ich nicht ihre Stelle einnehmen würde, denn ich habe ihr ja nie gesagt, dass ich das wirklich tun würde. Oh, verdammt.« Zorn brannte in ihr. »Hör zu, Penelope, du darfst niemandem ein Wort davon verraten!«
Penelope nickte heftig. »Niemandem.«
»Nur Hildy. Wir werden jemanden brauchen, der uns hilft. Jetzt habe ich nicht mehr viel Zeit, ich muss Elyn finden, ehe ihr Ehemann aufwacht.«
»Ihr Ehemann«, wiederholte Penelope nachdenklich und starrte Kiera an. »Was ist denn gestern Abend geschehen? Du weißt schon, nachdem Lord Kelan nach oben gegangen ist, in Elyns Zimmer?« Penelope klimperte mit den Augen vor Entsetzen.
»Nichts«, flüsterte Kiera rau, obwohl eine heiße Röte in ihre Wangen gestiegen war. »Ich meine, er war betrunken, und ich habe ihm den Schlaftrunk gegeben... und er schläft noch immer. Und jetzt werde ich zu Vater gehen und den Dienern zeigen, dass es mir besser geht. Aber ich werde sagen, dass ich Elyn im Flur begegnet bin, als sie zur Latrine ging und... oh, ich weiß nicht, was ich sagen werde... oh! Dass es ihr noch immer schlecht geht... Nein, dass sie müde ist, das ist es, und dass sie möchte... Nein, dass sie und ihr neuer Ehemann möchten, dass ihnen das Essen vor die Tür gestellt wird. Und du musst dafür sorgen, dass niemand in das Zimmer geht.«
»Aber warum sollten die beiden denn nicht nach unten kommen?«
»Weil sie so... so beschäftigt sind.«
»Was? Oh...« Penelope rollte mit den Augen. »Ich kann nicht... oh!«
Kiera packte ihre Schwester am Ausschnitt ihrer Tunika. »Du kannst und du musst, hast du mich gehört? Wenn irgendjemand herausfindet, was ich, ich meine, was Elyn und ich getan haben, wird das schrecklich sein. Undenkbar! Vater wird wahrscheinlich zusammenbrechen und sterben, aber erst, nachdem er Elyn und mich ausgepeitscht hat - ja, und dich auch -, weil wir alle gelogen haben. Er wird uns zu Tode prügeln, und der Lord von Penbrooke wird schrecklich wütend sein, weil er dasteht wie ein Dummkopf, und er wird... mich wahrscheinlich auch schlagen, genau wie Elyn und alle anderen, die in den Plan eingeweiht sind.«
»D-du meinst, mich auch?«, flüsterte Penelope voller Entsetzen, als sie endlich den Ernst der Situation zu
Weitere Kostenlose Bücher