Der Lord und die Betrügerin
nicht. Er, der sonst an jedem Morgen frisch aufwachte, bereit für den Tag, für die Arbeit, die vor ihm lag, war jetzt benommen und lethargisch... zu viel Wein...
Als er sich wieder aufrichtete, hörte er, wie die kleinen Fläschchen in seiner Tasche klirrten, und er fragte sich flüchtig, ob vielleicht ein Schlaftrunk in seinem Wein gewesen war. Aber warum... nein, er war ganz einfach nur müde, das war alles.
Er musste schlafen.
Ehe sich noch ein anderer Gedanke in seinem Kopf festsetzen konnte, schlurfte er zum Bett zurück. Das sah ihm so gar nicht ähnlich. Aber er war viel zu müde, um zu versuchen, all diese Vorfälle zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Wenn seine Braut zurückkehrte... dann würde er sie ausfragen. Dann würde er Antworten verlangen... Er würde darauf bestehen, die Wahrheit zu erfahren... Aber jetzt übermannte ihn erneut die Müdigkeit, und er gab nach. Er ließ zu, dass sich Dunkelheit über ihn senkte, er kämpfte nicht länger dagegen an einzuschlafen mit dem beunruhigenden Gedanken, dass seine neue, wunderschöne Frau nicht das war, was sie zu sein schien.
Hewlett-Packard
8. Kapitel
Kiera konnte Elyn nirgendwo finden. Nirgendwo. Eine schwache Wintersonne hatte sich durch die Wolken geschoben, und Kiera wusste, dass es Zeit war, ins Schloss zurückzukehren.
Hastig hatte sie in jedem Versteck nachgeschaut, das sie und Elyn als Kinder entdeckt hatten. Kiera war stundenlang geritten. Zuerst zu der Höhle in den Klippen über dem Meer, dann zu dem Felsvorsprung hinter einem Wasserfall. Sie war über die Wiese galoppiert, auf der sie so oft Schmetterlinge gefangen hatten, und hatte schließlich an der knorrigen Eiche angehalten, auf die sie immer geklettert waren, um die Schiffe in den Hafen segeln zu sehen.
All das war vergebens, und sie hatte zuletzt noch in der alten, verlassenen Mühle nachgesehen, wo sie häufig nackt im Mühlenweiher geschwommen waren. Weit weg von den Blicken ihres Vaters oder Kempers oder des Priesters des Schlosses hatten sie sich zusammen mit Hildy um ein Feuer gekauert und hatten von ihr alles über die alten Sitten erfahren. Dort hatte Kiera zum ersten Mal erlebt, wie ein Zauberspruch klang, hier hatte sie gelernt, Runen in den Sand zu zeichnen, und hier hatte sie zugehört, als Hildy ihnen von den Geheimnissen des Waldes und der Macht von Erde, Feuer und Wasser erzählt hatte.
Doch heute gab es keinerlei Spur von ihrer Schwester.
Es war beinahe so, als wäre Elyn vom dichten Nebel verschluckt worden, der zwischen den tropfnassen Farnen und den skelettartigen Bäumen waberte.
Oder sie war irgendwo anders, zusammen mit Brock.
»Wo zum Teufel bist du?«, fragte sich Kiera verärgert, während sie weiter die Wälder durchritt. Sie konnte nicht den ganzen Tag damit verbringen, nach ihrer Schwester zu suchen, nicht, wenn sie gleichzeitig die Lüge aufrechterhalten musste, dass sie ihre Schwester war. Während die Stunden vergingen, war Kiera immer klarer geworden, dass sie gefangen war in diesem Betrug, mindestens für einen weiteren Tag.
Nachdem sie unter jedes Dickicht und über jedes Feld gespäht hatte, das ihr in den Sinn kam, gab sie schweren Herzens die Suche auf und lenkte Garnet wieder zum Schloss zurück. Sie durfte nicht noch mehr Zeit verschwenden.
Kelan konnte bereits aufgewacht sein. Noch schlimmer: Er war vielleicht längst aufgewacht und wanderte durch das Schloss, auf der Suche nach ihr. Wenn er sie nun erwischte, wie sie von ihrem Ausritt zurückkam, und wenn nun jemand aus dem Schloss dabei war - der Stallmeister oder der Wagner oder der Bauer, der die Latrine leerte? Wenn Kelan sich so benahm, als seien sie verheiratet, als sei sie seine Braut, würden die anderen ihm erklären, dass sie nicht Elyn war... Oh, nein, das durfte nicht geschehen.
»Beeil dich«, flüsterte sie und beugte sich im Sattel vor. Der Geruch des Meeres stieg in ihre Nase, und ein paar Sonnenstrahlen stahlen sich durch die Wolken. Wie lange konnte sie diesen Betrug durchhalten? Wie konnte sie es schaffen, dass ihr »Ehemann« in Elyns Zimmer blieb? Sie konnte ihn ja wohl kaum einsperren. Sie dachte an die schlaflose Nacht, die sie hinter sich hatte, und wie sie sich benommen hatte, wie leicht es ihm gelungen war, das Feuer des Verlangens in ihr zu wecken, wie sie sich selbst jetzt noch wünschte, diese atemberaubenden Gefühle noch einmal zu erleben.
»Denk nicht daran«, knirschte sie vor sich hin und drückte der Stute die Knie in die Seiten. Das Tier reagierte
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