Der Lord und die Betrügerin
verschwunden.
Orson hängte das Zaumzeug an einen Haken und musterte sie eindringlich. »Ihr habt doch nicht etwa vor, allein auszureiten, wie?«
»Ich werde nicht lange wegbleiben.«
Orson ließ sich nicht beirren. »Ich könnte Joseph mit Euch schicken oder einen anderen der Stalljungen. Oder vielleicht einen der Wachmänner. Im Wald treiben sich Räuber, Halunken und Ausgestoßene herum, aber das solltet Ihr ja eigentlich am besten wissen.«
»Es wird schon nichts passieren«, wiegelte sie ab. »Macht Euch keine Sorgen.«
»Weiß Euer Vater davon?«, fragte er und räusperte sich verlegen, als würde er begreifen, dass diese Frage ihm eigentlich gar nicht zustand. »Auf jeden Fall solltet Ihr sehr vorsichtig sein«, meinte er dann. »Das ist alles, was ich dazu sagen kann, außer dass ich Euch einen schönen Ritt wünsche.«
»Den werde ich haben, Orson, danke.« Sie wandte sich um und lief nach draußen, wo Joseph bereits auf sie wartete. Er hielt die Zügel von Garnet, ihrem Lieblingspferd, einer großen, roten Stute, die hin und her tänzelte und unruhig den Kopf hochwarf.
»Sie ist bereit loszurennen«, meinte Joseph und grinste sie an.
»Sie ist immer bereit loszurennen.«
»Genau wie ihre Herrin.«
Trotz all ihrer Sorgen lächelte Kiera ihn an. »Aye, Joseph, genau wie ihre Herrin.« Wenn er wüsste, dass sie nichts lieber täte, als wegzurennen, so weit diese Stute sie trug! Sie spähte über ihre Schulter zurück zur dritten Etage des Schlosses, zum Fenster von Elyns Zimmer, wo sie sich für den Bruchteil einer Sekunde einbildete, den Lord von Penbrooke gesehen zu haben, der zu ihr hinunterschaute. Doch als sie einmal blinzelte, war das Bild wieder verschwunden, als wäre es nur ein Geist gewesen und vielleicht nicht mehr als das Spiel der Sonnenstrahlen im Nebel. Kelan schlief, und es würde wahrscheinlich noch Stunden dauern, bis er aufwachte. Wenigstens hoffte sie das.
»Ich wünsche Euch einen guten Ritt.«
»Den werde ich haben.« Kiera schwang sich auf den Rücken der Stute, und der Schmerz zwischen ihren Schenkeln ließ sie für einen Augenblick zusammenzucken, ehe sie nach den Zügeln griff. Himmel, sie musste sich beeilen und Elyn finden... wo auch immer zum Teufel ihre Schwester sich versteckte.
Vielleicht ist sie verletzt. Vielleicht ist sie sogar tot. Vielleicht hat ihr Pferd sie abgeworfen. Eine eisige Faust schien nach Kieras Herz zu greifen. Sie umklammerte die Zügel fester. Nein. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass Elyn ihre Meinung geändert hatte und nicht zurückkehren wollte. Kiera hatte mit diesem unglaublichen Gedanken bereits gespielt, hatte versucht, ihn von sich zu schieben, doch tauchte er ständig hartnäckig wieder auf, obwohl sie darum betete, dass ihre Schwester sie nicht fallen lassen würde.
Aber warum sollte sie das nicht tun?
Hatte sie nicht ihr Leben riskiert und die Verbannung, nur um bei ihrem Geliebten zu sein? Eventuell hatte sie es von vornherein Kiera überlassen, sich mit Penbrooke auseinander zu setzen. Kiera lenkte ihre Stute zum Tor des Schlosses. Sie musste Elyn finden.
Sonst wäre sie gezwungen, heute Nacht noch einmal die Rolle von Kelans Braut zu spielen.
Wäre das denn so schlimm ? Der Schaden ist doch bereits angerichtet. Warum also solltest du nicht noch eine weitere Nacht damit verbringen, die verschiedensten Arten der Liebe zu lernen?
Und was dann? Würde sie sich damit nicht noch viel tiefer in ihr eigenes Lügennetz verstricken? Sie lenkte Garnet durch den Schlosshof und unter dem Fallgatter her weg vom Schloss. Sie musste ihre Schwester überzeugen, dass sie an ihren Platz als die Braut von Kelan von Penbrooke zurückkehrte.
Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er genauso schwer wie sein Pferd.
Mit einem Stöhnen bewegte sich Kelan auf dem Bett. Es war kalt und dunkel im Zimmer, das Feuer war während der Nacht erloschen, die Läden vor dem Fenster waren geschlossen. Und das Bett war leer. Seine Frau war bereits aufgestanden.
Seine Frau.
Was für ein eigenartiger Gedanke. Aber er stieß ihn nicht länger ab. Die Frau hatte ihn überrascht. Wieder und wieder in der kurzen Zeit ihrer Ehe hatte er Zorn gefühlt, Erniedrigung, und dann war unerwartet noch die Verwunderung dazugekommen.
Trotz des Hämmerns in seinem Kopf musste er lächeln bei der Erinnerung an ihr Liebesspiel. Während er ihre Reinheit in Frage gestellt hatte, wegen ihres ungewöhnlichen Benehmens den ganzen Tag über und später auch im
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