Der Lord und die Betrügerin
Neil«, sagte sie, als das Mädchen davonlief. »Sie ist nicht ganz richtig im Kopf. Eure Zimmer sind hier drüben.« Kiera lehnte diese Dienerin spontan ab und hoffte nur, dass der Rest der Bediensteten angenehmer war.
Rhynn führte Kiera drei Etagen hoch, auf derselben Treppe, auf der Kelan nur eine Minute zuvor verschwunden war. Kiera hatte gesehen, wie er gleich zwei Stufen auf einmal nahm, und fühlte einen Anflug von Enttäuschung, dass er ihr nicht einmal mehr einen Blick über die Schulter gegönnt hatte.
Natürlich musste er zu seiner Mutter, das verstand sie. Und als sie dann auch nur einen kleinen Teil dieses riesigen Schlosses sah mit den vielen Zimmern und den dunklen Fluren, die auf jeder Etage von der Treppe abgingen, wuchs ihre Verzweiflung. Wie würde sie es nur schaffen, sich aus einem solchen Labyrinth wegzuschleichen? Wie könnte sie jemals Elyn finden? War sie dazu verdammt, für den Rest ihres Lebens mit dieser Lüge zu leben?
Aber: Wäre das wirklich so schlimm?
Natürlich wäre es das! Oh, sie war so müde, dass sie nicht länger klar denken konnte. Sie musste dem Baron die Wahrheit sagen. Schon bald. Bevor alles noch viel schlimmer wurde. Selbst wenn das bedeutete, dass sie die Konsequenzen würde erdulden müssen. Aber nicht heute Abend. Noch nicht. Erst, wenn sie in Gedanken alles geregelt hätte und jede andere Möglichkeit ausgeschöpft war, Elyn zu finden.
»Hier ist es«, erklärte Rhynn und öffnete die Tür eines geräumigen Zimmers mit einem breiten Himmelbett, das vor einem Kamin stand, der so groß war wie der, den sie in der Halle gesehen hatte. Bogenfenster boten einen Blick auf den inneren Schlosshof. Wandbehänge, Kerzenhalter und Waffen schmückten die Wände. Süß duftende Binsenmatten lagen auf dem Boden. Außer dem Bett gab es noch zwei Stühle, eine kleine Bank und einen Tisch. Zwei Alkoven gingen von diesem Zimmer ab, ein jeder war ein Durchgang zu weiteren geräumigen Zimmern. »Ich werde nach Neil sehen und dafür sorgen, dass die Wanne nach oben gebracht wird, aber das kann eine Weile dauern. Vielleicht möchtet Ihr Euch in der Zwischenzeit ein wenig ausruhen«, meinte Rhynn und schlug die Bettdecke zurück. »Dort in der Schüssel ist Wasser, und die Latrine ist ein Stück weiter auf dem Flur, auf der linken Seite. Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?«
»Nein. Es ist alles in Ordnung. Danke, Rhynn.«
»Ich bin gleich wieder da und sorge dafür, dass Euer Gepäck nach oben gebracht wird. Ich werde dem Koch sagen, dass Ihr Essen und Trinken bekommt. Er ist ein eigensinniger Kerl und mag es nicht, wenn er in seiner Routine gestört wird, aber ich werde dafür sorgen, dass Ihr nicht vergessen werdet.« Ihre Augen blitzten. »Ihr werdet feststellen, dass die Diener hier ein wenig faul sind. Das heißt nicht, dass ich petzen will, aber man muss sie sorgfältig im Auge behalten. Die Wäscherin, oh, sie ist eine schlampige Frau, ständig keift sie mit den Mädchen, der Koch ist eigensinnig, und der Verwalter trinkt viel zu viel Wein... Oh, na ja, ich habe bereits zu viel gesagt. Ich werde mich um alles kümmern, und Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, denn ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand Euch übervorteilt.«
»Danke, Rhynn«, sagte Kiera noch einmal, und ihre Abneigung gegen diese Frau wurde noch größer. »Aber ich denke, ich werde schon allein mit der Dienerschaft fertig.«
Rhynns Lächeln wirkte künstlich, als sie zur Tür ging. »Ganz, wie Ihr wünscht, M'lady, aber wenn Ihr Hilfe braucht oder... Informationen über das Schloss, dann stehe ich zu Euren Diensten.«
»Ich werde daran denken.« Kiera traute dieser Dienerin ganz und gar nicht und war dankbar, als sie verschwand und die Tür leise hinter sich schloss.
Gott sei Dank.
Zum ersten Mal seit Tagen war Kiera allein. Sie wünschte sich nichts mehr, als auf das Bett zu sinken, ihre Augen zu schließen und die Welt auszusperren, aber das konnte sie nicht. Nicht, ehe sie einen Weg aus diesem Durcheinander gefunden hatte. Ihre Aufgabe war es, mit jedem Menschen zu reden, den sie finden konnte, um herauszufinden, wie die Dinge hier in Penbrooke liefen. Als der Lord würde Kelan seine täglichen Aufgaben haben, er hätte Geschäfte zu erledigen, und sicher war er durch seine Reise nach Lawenydd mit seiner Arbeit im Hintertreffen. Und die Größe und Weitläufigkeit dieses Schlosses würde ihr genügend Entschuldigungen geben, viele Stunden allein zu verbringen. In dieser Zeit würde sie
Weitere Kostenlose Bücher