Der Lüge schöner Schein
in der Nähe des Büros gewesen. Am Vormittag hatte sich nichts Außergewöhnliches ereignet. Eigentlich hatte sich überhaupt nichts ereignet. Keine Klienten, nur wenige Anrufe. Anscheinend war das Geschäft sehr, sehr flau. Nein, sie hatte nicht gewusst, dass Mr. Lewis an diesem Nachmittag aus Schottland zurückkommen würde, aber überrascht war sie darüber nicht. Er verbrachte viel Zeit da oben, und anscheinend machte es ihm nichts aus, in ziemlich kurzen Abständen hin und her zu fahren.
Die andere Sekretärin, Jane Collinwood, wohnte am anderen Ende der Stadt. Sie würde warten müssen. Es sah so aus, als würde dieser Tag ergebnislos verstreichen.
Aber der Anblick, der ihn erwartete, als Pascoe durch die offene Eingangstür Sturgeons Haus betrat, ließ ihn seine eigenen Sorgen vorerst vergessen. Mavis Sturgeon, von munteren Sechzig auf pergamentene Neunzig gealtert, ließ sich gerade von einem Constable, der sich sichtlich unwohl fühlte, in den Mantel helfen. Sie stand eindeutig unter Schock und gab kein Zeichen des Wiedererkennens von sich.
»Was ist los?«
»Sind Sie ein Freund, Sir?«, fragte der Constable hoffnungsvoll.
»Ich bin Detective Sergeant, mein Sohn. Na los, was ist passiert?«
»Es ist wegen Mr. Sturgeon, Sergeant. Er hatte einen Unfall, und sie haben mich geschickt …«
»Ja.« Pascoe legte der Frau den Arm um die Schulter. »Haben Sie einen Arzt gerufen?«
»Also, nein. Sie wollte nicht … wollte nur direkt ins Krankenhaus«, gab der Constable hilflos Auskunft.
»Herrgott, Mann! Schauen Sie doch, in was für einem Zustand sie ist.«
Pascoes Ärger verflog rasch. Künder von Katastrophen und Tod zu sein, war keine Aufgabe für einen jungen Mann. Er zeigte auf das ledergebundene Adressbuch neben dem Telefon in der Diele.
»Da steht wahrscheinlich die Nummer ihres Hausarztes drinnen. Andrews heißt er, glaube ich. Rufen Sie ihn an. Sagen Sie ihm, er soll sofort kommen. Dann machen Sie sich auf die Suche nach einer Nachbarin und bringen sie rüber.«
»Bitte, ich muss zu Edgar«, sagte Mrs. Sturgeon kläglich.
»Natürlich. Bald. Kommen Sie und setzen Sie sich einen Moment«, antwortete Pascoe und führte sie mit sanfter Gewalt ins Wohnzimmer.
»Er war so in Sorge in letzter Zeit. So in Sorge. Und wollte nicht sagen, wieso. Ich hätte ihm mehr zusetzen müssen. Mir mehr Mühe geben müssen.«
Sie fing zu weinen an, und das Katzentrio, das die Szene aus dem finstersten Winkel des Zimmers misstrauisch beäugt hatte, kam nun kläglich miauend hervor und sprang ihr auf den Schoß. Sie vergrub ihre Finger in das Katzenfell und weinte weiter.
Wenige Minuten später kam der Constable mit einer Nachbarin, einer resoluten Frau mittleren Alters, die mit der Rührigkeit einer Vorsitzenden des örtlichen Frauenverbands das Kommando übernahm. Pascoe zog sich in die Diele zurück und sprach mit dem Constable.
»Ja, Sarge, sehr ernst, glaube ich. Als er eingeliefert wurde, war er noch am Leben, aber in diesem Alter …«
»Wissen Sie, wie’s passiert ist?«
»Nein. Keinen Schimmer. Niemand sonst verwickelt, mehr weiß ich nicht.«
»Und er ist die A1 hinuntergefahren.«
»War schon fast in Doncaster. Da haben sie ihn aufgelesen.«
Pascoe ging ans Telefon, vergewisserte sich aber vorher, dass die Wohnzimmertür wirklich geschlossen war. Es dauerte eine Weile, bis er die Auskunft am Apparat hatte, und in der Zeit überflog er das offene Adressbuch. Eine Nummer erregte seine Aufmerksamkeit. Eine Nummer in Lochart, aber der Name sagte ihm nichts.
Endlich meldete sich die Auskunft, die ihn zum Ausgleich besonders schnell mit dem Doncaster Royal Infirmary verband. Er sagte, wer er war, und erkundigte sich nach Sturgeon. Um den alten Mann stehe es sehr schlecht, war die Antwort. Schnittwunden im Gesicht, gebrochene Rippen, linke Kniescheibe zertrümmert, keine ernsthaften inneren Verletzungen, soweit man das im Moment sagen konnte, aber er hatte viel Blut verloren und befand sich in kritischem Zustand. Wer ihn sehen wollte, war gut beraten, so schnell wie möglich vorbeizukommen.
»Danke«, sagte Pascoe und legte auf.
Krankenhaus, Ärzte, Blut, Gewalt, Tod.
»Was für eine Art, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen«, bemerkte er zu dem Constable mit dem Knabengesicht. »Sie bleiben da, bis der Arzt kommt?«
»Ja, Sarge. Sie fahren jetzt?«
»Habe zu tun«, erwiderte Pascoe.
Dalziel hatte beschlossen, auf den Nachmittagskaffee zu verzichten, teils Graingers Rat folgend,
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