Der Lüge schöner Schein
ist nicht übliche Gerichtspraxis, Aufzeichnungen, die unter solchen Umständen gemacht wurden, laut vorzulesen, aber in diesem Fall glaube ich, dass es im öffentlichen Interesse wäre, von dieser Praxis abzuweichen. Ein Verbrechen wie dieses erweckt bei jedermann Gefühle von Entsetzen und Abscheu, doch bei denjenigen, die in nächster Nähe des Tatortes leben, erzeugt es notgedrungen auch Beklommenheit und Angst vor einer neuen Tat. Es ist Aufgabe dieses Gerichts, diese Befürchtungen, soweit das nur möglich ist, zu zerstreuen.«
French hustete zweimal und begann von dem Blatt, das vor ihm lag, abzulesen. Pascoe verschloss die Ohren und lenkte seine Gedanken in eine andere Richtung, doch Satzfetzen drangen immer wieder zu ihm durch …
hier muss ich ewig, ewig weilen … ein Liebender, gefesselt, blutend, nackt … still ist Alles hier im ew’gen Schlummer
…
»Pope«, flüsterte Ellie.
»Was?«
»Pope. Der Dichter. Er zitiert Pope.«
Sie hielt seine Hand ganz fest, und er spürte, wie sie versuchte, die Worte, die French trocken und emotionslos vortrug, nicht mit dem vom Regen gepeitschten Wagen in Verbindung zu bringen, der der stinkenden Lehmgrube entgegenrumpelte.
»Oh, Peter«, sagte sie. »Das ist
Heloïse an Abélard!«
Sie stand auf und ging. Es gab keinen Tränenausbruch, absolut nichts Dramatisches. Es war, als hätte sie sich daran erinnert, dass sie noch einen Termin hatte.
Mit einem entschuldigenden Blick zu French, folgte Pascoe ihr. Er holte sie auf dem Spielplatz ein.
»Verstehst du denn nicht?«, sagte sie. »Dieses Gedicht ist ihm unseretwegen eingefallen. Irgendwie muss er zum Schluss über uns nachgedacht haben.«
Sie klammerte sich an ihn, jetzt schluchzte sie. Pascoe drückte sie an sich, konnte aber die Gefühle nicht nachvollziehen, von denen sie sich so hinreißen ließ.
»Du meinst also, weil wir übers Wochenende kommen sollten und er uns im Scherz mit zwei Liebenden aus dem Mittelalter verglich, fällt ihm ein Gedicht aus dem achtzehnten Jahrhundert dazu ein, nachdem er seine Frau und zwei enge Freunde umgebracht und beschlossen hat, Selbstmord zu begehen?«
»Herrgott noch mal, Peter, musst du immer so genau und analytisch sein«, rief sie aus und stieß ihn von sich. Aber die Tränen waren versiegt.
»Dieses Gedicht, es ist Jahre her, seit ich zum letzten Mal Pope gelesen habe, wie ist das geschrieben?«
»Na, als Brief von Heloïse, nachdem die beiden getrennt wurden. Peter, Abélard wurde kastriert, hast du das gewusst? Sie ist in einem Kloster oder so, aber das Feuer ist noch nicht erloschen. Es ist ein sehr leidenschaftliches Gedicht.«
»Merkwürdig. Hör mal, mein Schatz. Ich möchte mal kurz verschwinden, weil ich was herausfinden muss. Hast du was dagegen?«
Eine von Ellies vielen Tugenden war, dass sie wusste, wann es besser war, nichts dagegen zu haben.
»In Ordnung. Mir geht’s gut, ich geh jetzt wieder hinein.«
»Schön. Eines noch. Was wolltest du über Pelman sagen?«
»Also, eigentlich nichts über ihn, nicht direkt jedenfalls. Mir ist nur noch etwas zu den Ferien in Eskdale eingefallen. Dieser grässliche Bauer, der ständig um uns rumscharwenzelte, der, der uns das Cottage vermietet hat. Der hat doch allein gelebt, und die Einheimischen im Pub haben gesagt, seine Frau sei ihm vor ein paar Jahren mit einem von seinen Landarbeitern abgehauen. Keiner hat sie je wieder gesehen.«
Pascoe umklammerte mit beiden Händen den Zaun, der den Spielplatz umgab, und sah mit leerem Blick auf das sonnenbeschienene Feld, das sich hinter dem Schulgebäude erstreckte.
»Du hast recht«, sagte er. »Ich erinnere mich. Und haben nicht Colin, und ich glaube auch Tim, eines Nachts, als sie ein bisschen betrunken waren, bei ihm herumgespukt? Sie haben sich Laken übergezogen und sind den Berg hinter seinem Haus runtergelaufen, als er auf dem Heimweg war.«
»Genau, so war’s«, bestätigte Ellie und lächelte über das ganze Gesicht. »Ich erinnere mich.«
Einen Augenblick waren beide wieder voller Leben.
»Ich gehe jetzt«, sagte Pascoe sanft. »Bis später.«
»Ist gut.«
Sie sah ihm zu, wie er federnden Schrittes über den Hof und durch das Tor ging. Etwas veranlasste sie, ihm »Pass auf!« nachzurufen, aber er hörte es wohl nicht. Ausgerechnet jetzt fiel ihr ein, was sie ihm über das Jockey hätte sagen sollen. Aber es musste ja nicht sofort sein. Zuerst musste dieser Vormittag durchgestanden werden.
»Von Antiquitäten versteh ich ja nicht
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