Der Lüster - Roman
zusammen, biss blass auf die Zähne. Eine köstliche Fremdheit ergriff allmählich von ihm Besitz und flößte ihm Widerwillen und Kraft ein, es war ein außerordentliches Gefühl der Annäherung. Der Gedanke schoss ihm in den Sinn, die Soldaten umzustoßen und den Mann zu befreien – doch mit unbeweglichen Augen fühlte er sich eher imstande, den Mann umzustoßen und ihn zu treten, mit Füßen zu treten. Er lächelte unvermittelt, strich sich über die Oberlippe, als glättete er einen imaginären Schnurrbart. Der Gefangene und die Soldaten tauchten hinter einer Ecke ab … Er zuckte zusammen, schaute auf die von neuem leere Straße und ging, einen Fluch unterdrückend, fast im Laufschritt, in die Richtung, in die er die Frau und die vier Kinder hatte verschwinden sehen. Im Gehen hielt er sich nahe an den Wänden … Er bog um eine Ecke, ja, da waren sie, entfernten sich am hinteren Ende der Straße … Er lief schneller, die Schritte hallten auf dem Pflaster wider, und die Angst, die Leute nicht einzuholen, brachte ihn dazu, laut nach ihnen zu rufen. Die Frau drehte sich um, zögerte für einen Moment auf der menschenverlassenen Straße, die Gruppe blieb stehen. Daniel ging auf sie zu, war sogleich bei ihnen, mit keuchendem Atem, die Augen glänzten. Jetzt sah er die Frau aus der Nähe, konnte ihre dunkle schmutzige Haut erkennen, die unruhigen, müden Augen. Erschrocken griff er in die Tasche, zog eine Münze hervor … Er hielt sie der Frau hin, mit schroffer Geste. Ohne die Lippen zu öffnen, musterte sie ihn entsetzt, wollte schon nach dem Almosen greifen, aber ein plötzliches Misstrauen ließ sie innehalten, und sie antwortete:
»Nein, vielen Dank.«
Eine Bewegung aus Zorn und Überraschung packte ihn. Die zwei sahen einander schweigend an; er misshandelte sie unter Mühe mit seinem rohen Blick. Nach einem kurzen Moment sagte Daniel schließlich fast zartfühlend, da er wusste, dass er sie unterworfen hatte:
»Nehmen Sie.«
Die Frau zögerte. Plötzlich streckte sie die Hand aus, nahm die Münze und maß ihn mit einem heiseren und schwierigen Blick, ohne ein Wort zu sagen. Er sah, wie sie sich entfernte, blickte ihr entschlossen und befriedigt nach, mit durchdringender Kraft und einem tiefen Lachen von innen – er stieß einen Triumphschrei aus, während er über seinem Opfer kreiste. Die Nacht brach allmählich herein. Über einer schmalen, verschlossenen Tür hing ein fast glänzendes Schild: Sete & Snabb – Zollagenten. Ein dünnes Mädchen tauchte an einer Ecke auf und verschwand blitzschnell im schwarzen Inneren des Hauses. Er blickte unentschlossen auf die verlassene Straße. Ruth, Ruth, murmelte er in einem trockenen Schluchzen. Die Schatten der geschlossenen Lagerhäuser fielen quer über den blassen Boden, verlängerten sich auf die andere Seite der Straße bis auf den gegenüberliegenden Gehsteig. Er zögerte eine Weile. Und dann ging er weiter, bewegte sich im Halbdunkel wie ein Vampir.
Nicht nur Daniel fühlte sich weit weg an. In ihrer Abwesenheit hatten sich die kleinen Ereignisse, von denen sie nichts wusste, zu einer Barriere aufgehäuft, und sie fühlte sich ausgeschlossen vom Geheimnis der Familie. Zwischen den Gesprächen füllten sich die Zeiten der Stille mit Zurückhaltung und einem vagen Missfallen. Man schien ihr zum Vorwurf zu machen, dass sie nicht weiter abwesend war, dass sie die Kindheit und Jugend mit ihnen gelebt hatte. Es war, als wehrten sich die anderen gegen eine Anschuldigung, die sie in Wirklichkeit gar nicht vorzubringen gewusst hätte.
»Was ist denn so Gutes passiert?«, fragte sie mit einem falschen Lächeln.
Es war so schwierig, zu erzählen, was in der Zeit der Trennung geschehen war … alles entzog sich den Worten.
»Na ja, das Übliche eben«, sagten sie schließlich mürrisch.
Sie fühlten sich aneinandergekettet, und die Augen glänzten gereizt, wenn sie ein paar Worte wechselten. In Wahrheit war Folgendes geschehen: Sie hatten eine gewisse alltägliche, ruhige Befriedigung darin gefunden, gemeinsam zu Mittag und zu Abend zu essen, sie begegneten einander auf den Korridoren, verständigten sich durch kleine, lose Worte. Sie lebten zusammen, wie um auch im Moment des Todes noch zusammen zu sein – zusammen hätten sie alle, wenn einer von ihnen starb, weniger Angst vor dem Sterben. Die ständige Reibung, das Atmen derselben Luft brachte in ihnen das Schnellste zutage, was es gab, und sie wechselten knappe Worte. Das Gespräch warf ein Licht
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