Der Lüster - Roman
heftig und unterdrückt.
»Schrei bitte nicht so, du weckst noch die anderen«, sagte Virgínia.
Sie verließ die Küche; die Uhr auf dem engen dunklen Gang schlug zwei. Ja, welche Schuld? Ein langsames, nachdenkliches Gefühl schien sie zu ergreifen für den Rest der Tage. Wie hatte sie nicht vorausgeahnt, was in dem Haus für ein Kriechen war? wie hatte sie nur die Stadt verlassen können? Das schwache Licht in der Küche brannte immer noch; und Daniel war noch nicht zurück. Sie ging langsam die Treppe hoch, den Saum ihres Morgenmantels in der Hand, trat mit nackten Füßen auf den schlaftrunkenen, stillen Samt. Oben auf dem Absatz hielt sie inne und sah die Dunkelheit des Esszimmers. Sie wartete einen Moment. Da fiel es ihr wieder ein: Früher hatte sie immer den finsteren Gang durchquert und dabei den Teppich unter den bloßen Füßen gespürt, den Nacken steif vor Angst … bei jedem Schritt würde eine Hand sie am Kleid packen, an den Haaren; wenn sie von oben auf der Treppe die gedämpfte Helligkeit des Esszimmers sah, stürzte sie sich unbeherrschbar die schwarzen Stufen hinunter, die Augen zu Schlitzen verengt und trocken; im zögerlichen, zurückhaltenden Licht des Leuchters atmete sie lautlos, das Herz schlug weit, hohl und fahl; sie berührte die Dinge mit leichten Händen, suchte tief ihr Innerstes; die Mutter stickte, der Vater las, Esmeralda, die damals noch sanftmütiger war, schaute aus dem Fenster auf die halbe Klarheit des Hofs hinaus, Daniel kritzelte etwas in ein Heft; das Esszimmer war freigegeben; niemand sah sie an, und das war der Schutz, den sie gewähren konnten; unbemerkt bewegte sie sich ohne Eile zwischen ihnen, atmete von neuem die vertraute, fremde Atmosphäre, sie spürte, dass sie in Sicherheit war vor dem leeren, schwarzen und wispernden Feld, dem in Dunkelheit verschlossenen Korridor; hinter dem Fenster strahlten die veilchenblauen Glühwürmchen und hinterließen keine Spuren.
Der unerklärliche Wunsch überkam sie, jetzt von neuem die Treppe hinunterzugehen. Sie streckte im Dunkeln den Arm aus und trennte sich in der Berührung mit dem Handlauf beinahe von dem, was an ihrem Entschluss natürlich war; sie zögerte einen Augenblick lang, wie wach geworden durch den eisigen Marmor; schließlich schien das Geländer sich unter der warmen Hand zu beleben, und sie hob mit der anderen Hand den Saum des langen Kleidungsstücks; während sie die Stufen hinunterging, griff sie sich unbewusst an die üppige Brust, mit einer majestätischen, gemächlichen Haltung, und dabei fühlte sie sich auf eine unsagbare Weise wie ein anderer Mensch, jemand Unbestimmtes, aber von ganz großer Vertrautheit, wie ein alter Wunsch, der keiner Worte mehr bedarf, um sich zu erneuern. Eine Erinnerung, verschwommen und lebhaft. Sie stand einen Augenblick lang reglos da. Dann raffte sie den Morgenmantel zusammen und ging auf ihr Zimmer.
Am folgenden Tag schlug sie ernst und mit Muße das Fotoalbum auf. Da waren die Verwandten, den Hut in die Stirn gezogen, die Augen tief und dunkel, ihre Posen affektiert, so mühselig. Und von neuem war sie von der Lächerlichkeit gerührt, sie fiel davon in ein wirres, sanftes Gefühl, das vielleicht schon immer das stärkste gewesen war in ihrem Leben. Man darf sich nicht schämen, dass man die Familie mag – das war die unerklärliche Empfindung. Ihr kam es so vor, als hielte sie Porträts von Toten in der Hand, doch sah sie ihre Mutter in jungen Jahren, ihren Vater mit steifem Schnauzbart und Männergesicht, ihre Tanten, die auch jetzt noch lebten; ihr Herz schloss sich vor Sehnsucht, angespannt und traurig. Meine Lieben, dachte sie mit feuchten Augen, im Bewusstsein der Falschheit dieses Ausdrucks, und vertiefte sie noch genießerisch. Eine wirkliche Liebe, schmerzlich und weit, entströmte ihrer Brust, und sie lächelte bewegt und wohlwollend über die Kraft der eigenen Gefühle. Endlich das Leben, dachte sie in einer fröhlichen und schüchternen Regung, mit einem Seufzen. Bereits jetzt ruhte ihr Blick ohne Aufmerksamkeit auf den Porträtbildern, wo die Mutter in altmodischen, eleganten Kleidern die schwarzen Augenringe sehen ließ – sie war durcheinander und voller Hoffnung, das Herz so aufgewühlt und zart, als hätte die Jahreszeit gewechselt, als hätte sie plötzlich begonnen, zum ersten Mal einen Mann zu lieben.
Als sie sich zu Tisch setzte, um mit den anderen zu Mittag zu essen, sie, die noch nicht die Gewohnheit verloren hatte, ihre Mahlzeiten allein
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