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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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und glücklichen Alter. Der Vater war unverändert geblieben, hatte sich aber auf unerklärliche Weise in einen Typus verwandelt, in seinen eigenen. Und die Mutter hatte sich grundlegend verändert. Ihre Haut war ausgetrocknet und hatte einen sandigen Ton angenommen; von der Stirn bis zum Mund wirkte sie noch jung, darunter aber brach das Alter herein, als hätte es sich nur mühsam zurückgehalten. Nach dem Aufwachen war ihr Gesicht ausgeruht, wohlgenährt, sie aß tüchtig, sie stickte, das Kinn doppelt und fest, den Kopf halb erhoben in Genugtuung und Würde: So machte sie eine mustergültige Geschichte aus ihrem Leben. Ihre Gesichtszüge und Körperformen waren üppig und häuslich; eine blasse Fettschicht umgab ihre Gestalt, die mittlerweile, gealtert und starr geworden, erstmals eine Art Schönheit angenommen hatte, eine Vertrautheit und Liebenswürdigkeit, etwas Treuherziges und Kraftvolles wie bei einem großen Hund, der im Inneren eines Hauses aufgezogen wurde. Sie schien ein neues Geheimnis entdeckt zu haben, von dem sie leben konnte; sie unterbrach sich für einen Moment, fuhr sich mit der Zunge über die Zähne:
    »Als ich immer nach Brejo Alto musste …«, sagte sie …
    Denn zwei Wochen lang hatte ihr Mann sie jeden Tag mit dem Einspänner ins Städtchen gefahren, bis das neue Gebiss fertig war. Dazu hatte noch eilends ein blaues Leinenkleid genäht werden müssen, mit mehreren Knopfreihen. Sie brauchte sich nur mit der Zunge über die Zähne zu fahren, schon kam ihr der kleine, ruhige Ort in den Sinn, mit einer Verstörtheit, die sie blinzeln ließ, die Zunge vergessen auf der oberen Zahnreihe, die Lippe gekräuselt. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, die Zähne zu suchen zu einer schnellen Berührung. Und inzwischen erfolgte diese Liebkosung unbewusst, eine unwiderstehliche Marotte, bei der ihr offenbar nicht mehr die ungetrübte Erinnerung an Brejo Alto kam, sondern nur noch ein gewisser eiliger, bedrückter Genuss, eine murrende Zustimmung. Wenn Virgínia sie so sah, empfand sie Anspannung und Ekel, sie versuchte zu erraten, wie diese Frau überhaupt noch leben konnte; und wie die Art von Liebe, die die Mutter jetzt fühlte, aus Völlerei bestand, aus vollkommener Hingabe, keuchender Müdigkeit und Hoffnung, Herrgott, Hoffnung. Ihre eigenen Gedanken erschreckten sie. Virgínia hielt den Körper im Zaum, drehte den Kopf zur Seite, als wollte sie ihn von sich selbst abwenden. Sie fixierte die anderen, sah sie jedoch immer noch wie in dem Moment, in dem sie aus dem Zug gestiegen war: die Gesichter leicht schief und unvertraut, als sähe sie sie in einem Spiegel. Auf Granja Quieta atmete man jetzt eine einfache Wahrheit, fast gesund und luftig. In jedem Zimmer sollte sich eine andere Farbe entzünden, sobald sich die Türen schlossen? In diesen sauberen, klaren Leben, in die kein feuchter Engel sich jemals einschleichen würde, war das Wunder getrocknet zu Grasbüscheln, die brüchig im Wind schwankten – wo, wo war nur geblieben, was sie erlebt hatte? Granja Quieta hatte verloren, was daran klösterlich gewesen war. Nur für einen Moment erfasste sie in der Luft die Schwingung von damals, jenes bebende Dahinleben der Dinge im Haus, das sie als Kind so gut zu hören wusste. Granja Quieta war in ihrer Abwesenheit an die Oberfläche gestiegen und glänzte nun neu in der Sonne; die Bewohner des Hofs wirkten wie auferstanden, aber ohne zu wissen, dass sie gestorben waren, sie gingen in aller Ruhe über einen flachen Boden. Was war geschehen? sie fühlte jedes Ding am Platz frei von ihrer Gegenwart und ihrer Berührung – aufrührerisch weigerte sich das Leben, sich zu wiederholen und sich unterwerfen zu lassen. Jetzt diente das Haus ihrem großen und schüchternen Körper gut – bemerkte sie mit leichter Bitterkeit und einem Lächeln, das die Erfahrung des Gelebten ausdrücken wollte, aber nur traurig und nachdenklich war. Selbst im Park von Brejo Alto – sie hielt inne, um den Schal fester zu ziehen, den sie nun wieder trug – hatte der Springbrunnen unter dem kleinen nackten Putto sein Plätschern eingestellt, und ohne den Glanz des Wassers war der kindliche Gott verblasst. Ein lebendiges Kind spielte in dem trockenen Brunnen. Das gelbe Kleid. Zwei neue Hotels hatten im Ortskern eröffnet, einige junge Leute überquerten die Straßen mit Reitpeitsche und Jagdkleidung und sahen sich um.
    Esmeraldas Kleider rochen immer noch angenehm frisch und salzig. So machte sie sich zurecht, achtete auf

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