Der Lüster - Roman
Haustür, ohne den beiden Alten zu begegnen, stieg ins Taxi; als der Wagenschlag zufiel und das Auto sich in Bewegung setzte, stützte sie den Kopf in die Hände und wiederholte für sich, von Freudentränen geschüttelt, seltsamerweise, sie, die sich doch nie auf ihre Familie gestützt hatte: Mutter, ach Mutter, so weit ist es mit deiner Tochter gekommen! das beruhigte sie. Sie ging mitsamt ihrem Gepäck in einen Milchladen, bestellte sich Kaffee, Milch, Kekse, Kuchen, aß gierig, empfindlich wie nach einer Bestrafung, sie aß und litt, hielt dabei immer wieder inne, um eine Art Schmerz zu beherrschen, der vom Rumpf bis zur Kehle hochlief und den sie hinter einem Lächeln versteckte, die Augen in finsterer Glut.
Sie war in die Pension gezogen; sie durchquerte die dunkle, schmutzige und vage Erinnerung an die Pension gegen die Wand gedrückt, fliehend, rennend, das Herz bleich vor Erleichterung, um Zuflucht in dem Gedanken an die Wohnung zu finden, in der sie schließlich angekommen war. Das Gebäude war neu, eine enge Schachtel aus feuchtem Beton, schlank und hoch, mit quadratischen Fenstern. Ja, es war eine sehr traurige Zeit gewesen, ohne Worte, ohne Freunde, ohne irgendwen, mit dem sie sich schnell und freundlich hätte verständigen können. Der Eindruck, sie sei allein auf der Welt, war so dringlich, dass sie fürchtete, die eigenen Kenntnisse zu überschreiten, hineinzustürzen in was. Das wäre einfach gewesen, ohne einen Menschen an ihrer Seite und ohne eine Vorstellung vom Leben und vom Denken, die sie hätte leiten können. Sie entdeckte, dass sie keinen gesunden Menschenverstand besaß, mit keiner Vergangenheit ausgestattet war und keinem Ereignis, das ihr als Anfang gedient hätte, sie war noch nie praktisch veranlagt gewesen und hatte immer ziellos improvisiert. Nichts von dem, was ihr bis dahin geschehen war, noch nicht einmal einer ihrer bisherigen Gedanken, verpflichtete sie zu einer Zukunft, ihre Freiheit wuchs nachdenklich mit jedem Augenblick, kalte Luft, die in ein leeres Zimmer dringt und hindurchfegt. Ihr Leben bestand daraus, eines Tages das Kleid verkehrt herum anzuziehen und mit neugieriger Überraschung zu sagen, wie auf eine Neuigkeit hin: Na so was, das ist mir ja schon lang nicht mehr passiert, na so was. Sie wollte sich kleinen Dingen widmen, die ihre Tage ausgefüllt hätten, sie versuchte es auch, aber der geschmeidige Zauber ihrer Kindheit war verloren, sie hatte mit ihrem Geheimnis gebrochen. Allerdings nahm sie alles immer genauer. Bevor sie eine Zigarette ausdrückte, überlegte sie, ob sie das wirklich tun sollte. Danach hatte sie das innige Bedürfnis, jemandem davon zu erzählen, irgendwie, aber sie wusste nicht, wie. Dann war ihr, als verschluckte sie die kleine Begebenheit, doch diese löste sich in ihr nie ganz auf. Sie bearbeitete ihren Tag mit einem tiefen Erdulden. Eines Nachmittags, da ihr das Geld auszugehen begann, nahm sie in einem Laden ein Stück Käse mit, ohne zu zahlen, ohne zu stehlen – der Kassierer merkte nichts, sie ließ die Beute wie aus Unachtsamkeit in die rote Handtasche gleiten, ging gemächlich hinaus, allein auf der Welt, das Herz schlug ihr hohl und sauber in der Brust, eine schmerzliche Verdichtung im Kopf, fast ein Gedanke. Zu Hause angekommen, setzte sie sich hin und verharrte für einige Zeit reglos. Sie hatte keinen Hunger. Und das wenige Geld würde noch reichen, um ein paar Lebensmittel zu kaufen, bis die Geldsendung des Vaters käme. Warum hatte sie also gestohlen? Sie packte das Stück Käse aus und fing an, langsam darauf herumzukauen. Der Käse war weiß, löchrig und alt, einer von der Sorte, die nur dazu gut war, dass man sie rieb und auf die Nudeln streute, ach, einer von der Sorte, wie man sie auf die Nudeln streute … Sie begann zu weinen, die Lippen kalt, ohne Unschuld. Sie ging hinüber zur Kommode, betrachtete sich im Spiegel, sah das rote Gesicht, angespannt und traurig. Da fing sie wieder an zu weinen, ohne an den Käse zu denken, fühlte sich dabei zutiefst still, und es gelang ihr nicht, auch nur irgendeinen Gedanken zu fassen. Im Sitzen betrachtete sie den Wasserkessel. Ihren kleinen Wasserkessel auf der Fensterbank, der sich leuchtend gegen die verstaubten, undurchlässigen Jalousien abhob; überall im Wohnzimmer die stehende Luft, die das Strahlen einfing, so wie wenn draußen die Sonne scheint und jemand im Schatten verharrt. Ein dunkler Stuhl spiegelte sich im Bauch des Wasserkessels, konvex, langgestreckt, reglos.
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